Gedanken über den Nutzen von Grenzen

Überwindung von Grenzen als Leitmotiv

Die Überwindung von Grenzen ist das Leitmotiv der Moderne. Die Neuzeit, sagt man, fängt an mit der „Entdeckung“ Amerikas. Die Entdecker und Eroberer waren die Heldengestalten vieler Generationen von jungen Männern, seltener Frauen. Der Aufbruch in neue Welten und die Kolonisierung wurden zumeist ethisch, nämlich mit der Ausbreitung des Christentums gerechtfertigt.

Parallel entwickelten sich Naturwissenschaft und Technik. Sie halfen immer neue Räume zu erkunden und zu errobern. „Schneller, stärker, höher“ wurde zur Maxime der Technik im 19. Jahrhundert und zum Motto der Weltausstellungen seit 1850.

Als geographisch nichts mehr zu entdecken war, keine Grenzen mehr sichtbar waren, musste man welche erfinden, um auch sie dann zu überwinden. Das bekannteste Beispiel war, vor 40 Jahren, John F. Kennedy, der mit seinem Programm „New Frontiers“, neue Grenzen zum weltweiten Vorbild der Jugend wurde. Frontiers, das sind die Frontlinien, also die beim Vorwärtsstürmen zu überwindenden Grenzen. Limits wären die begrenzenden Grenzen. Kennedy wollte neue Horizonte auftun. Ihm ging es um die politische Moral der Demokratie im Inneren wie im Äußeren. Im Inneren brachte Kennedy die Gleichberechtigung der Rassen und der Geschlechter mit großen Schritten voran. Im Äußeren schmiedete er die Allianz für den Fortschritt. Sie war auch als Antwort auf den sich in Lateinamerika ausbreitenden Kommunismus gedacht, ähnlich wie Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft die Antwort auf den europäischen Kommunismus war. Und als krönendes Symbol der new frontiers und zugleich als Antwort auf den sowjetrussischen Sputnik wollte er mit dem Apolloprojekt den ersten Menschen auf den Mond bringen.

Das Zivilisationsprojekt der Überwindung von Grenzen ging immer weiter. Bald waren es Marssonden, Tiefbohrungen ins antarktische Eis und in die Erdrinde, sowie die technologische Erschließung des Mikrokosmos. Nicht lang, und Kennedys moralischer Impetus war vergessen. Die Feldzüge in neue Gebiete verselbständigten sich. Auch die militärische Komponente, bei Kennedy stets auch vorhanden, wurde stärker. Satelliten waren erst einmal Himmelsspione.

Sorgen um die immer kühnere Entgrenzung machte sich Anfang der 1970er Jahre der Club of Rome. Mit einem sehr vereinfachten dynamischen Computermodell wurde gezeigt, dass wenn alles auf der Welt seinem gegenwärtigen Trend folgen würde, der ökologische und politische Kollaps vorprogrammiert sei. Der berühmte Bericht an den Club of Rome hieß „Die Grenzen des Wachstums“. Und diesmal waren es „limits“, nicht „frontiers“.

Es war wohl das erste Mal seit Malthus 130 Jahre früher, dass die ganze Menschheit vom Gespenst einer Begrenzung des Wachstums verfolgt wurde. Tapfer stellten sich die Wachstumsfreunde dem pessimistischen Bericht entgegen. Man durchwühlte die Erde mit aller Macht nach neuen Bodenschätzen und wurde fündig. Und die Verteuerung des Öls führte zu ungeahnten Einsparerfolgen. Und so konnte die Welt knapp zehn Jahre nach den „Grenzen des Wachstums“ vermelden, dass alles nur Einbildung von Pessimisten war. Und es wurde politisch korrekt, wieder in Optimismus zu machen und Grenzen als lästig und zu überwinden anzusehen.

Kennedys fünfter Amtsnachfolger Ronald Reagan wurde zum Bannerträger einer neuen, expansiven Ökonomie. Er ergriff die Initiative für die letzte und größte GATT-Runde, die „Uruguay-Runde“. Das war 1986, in Punta del Este, Uruguay. Die Runde sollte zum Fanal des endgültigen Sieges des Freihandels über alle anderen Prinzipien werden. Neue Themen wurden aufgerufen, insbesondere der unbeschränkte Dienstleistungshandel (GATS) und der handelsbezogene Patentschutz (TRIPS). Alles, was sich der Dampfwalze des Freihandels entgegen stellte, wurde als „Handelshemmnis“ diskreditiert. Wenn eine Stadt ihre eigene Wasserversorgung in der Hand behalten wollte, wurde dies zum Handelshemmnis erklärt. Denn es könnte ja sein, dass ein Anbieter von jenseits des Ozeans das System der Wasserversorgung effizienter und billiger organisieren könnte. Und das wäre doch gut für alle. So lautete die Lehrbuchdoktrin.

Die Ökonomie wurde zur Weltreligion. Ökonomische Effizienz wurde zum Maßstab aller Optimierungsprozesse. Und Effizienz war nach ökonomischer Lehre nur dann zu erwarten, wenn Wettbewerb herrschte, welcher nicht durch Grenzen geographischer, politischer oder rechtlicher Natur eingeengt wurde.

Die Wucht der neuen Religion – zusammen mit dem militärischen Drohpotenzial – brachte das durch die Friedensbewegung im Westen bereits im Kern verunsicherte kommunistische System zum Einsturz. 1990 war es dann soweit, dass auf der Welt nur noch ein System herrschte, eben das marktwirtschaftliche. Dieses Jahr 1990 sollte ein Wendepunkt der Geschichte werden. Francis Fukuyama rief sogar das Ende der Geschichte aus, nachdem der Streit der Ideologien zu Gunsten der marktwirtschaftlichen entschieden war.

Globalisierung

Das logische Ende der Geschichte der Grenzüberschreitungen auf der Erde ist die Globalisierung. Sie wurde zum neuen Paradigma der Nach-1990-Welt. Bis 1992 kam das Wort Globalisierung in der deutschen Umgangssprache noch nicht vor. Ich führe sein plötzliches Auftreten auf drei Phänomene zurück:

Außer dem Zusammenbruch des bürokratischen Sozialismus und der Uruguay-Runde des GATT muss auch das Auftreten des Internet als Wegbereiter des Paradigmas der Globalisierung genannt werden.

Die Globalisierung hat die Welt in kürzester Zeit durchgreifend verändert. Während des Ost-West-Konflikts waren die Nationalstaaten noch in einer komfortablen Verhandlungsposition gegenüber den internationalen Kapitalmärkten gewesen. Sie konnten stets darauf verweisen, dass die Zufriedenheit der demokratischen Mehrheiten der beste Garant gegen das Abrutschen ins kommunistische Lager war. So wurde nicht nur Kennedys Allianz für den Fortschritt und Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft im Konsens mit den Banken und mit den Besitzern großer Vermögen durchgesetzt. In allen Ländern gab es eine progressive Einkommensteuer, die die Reichen prozentual stärker zur Kasse bat als die Ärmeren. In allen Demokratien gab es ein soziales Netz, Bildung für alle, eine Gerichtsbarkeit, die die Armen nicht benachteiligte und eine öffentliche Infrastruktur, die allen gleichermaßen zur Verfügung stand.

Das Ende des Ost-West-Konflikts hat die Verhandlungsposition der Staaten radikal geschwächt. Das war nicht intendiert, und die Vertreter des Kapitals brauchten zwei, drei Jahre, bis sie so richtig realisierten, dass sie auf einmal viel stärkere Muskeln hatten. Nun aber gingen die Finanzinstitute, allen voran die amerikanischen Pensionsfonds daran, das Prinzip des „shareholder value“ durchzusetzen, welches alle anderen Gesichtspunkte unterjocht. Für die Staaten wurde es auf einmal heikel, von den Millionären prozentual höhere Steuern einzutreiben als von den Mittelverdienern. Denn die Reichen und die Investoren konnten sich auf einmal frei von politischen Rücksichtenaussuchen, wo sie Steuern zahlten. Sie setzten einen Welttrend der Steuersenkung für Vermögen, für Spitzenverdiener und für die gewerbliche Wirtschaft in Gang, der heute noch anhält.

Eine Folge hiervon war auch ein immer noch weiter gehendes Auseinanderklaffen des Abstands zwischen Arm und Reich auf der Erde.

Der Staat hat viele Möglichkeiten eingebüßt, dem Kapital noch Grenzen aufzuerlegen. Insbesondere der Schutz und der Ausbau der „Öffentlichen Güter“ ist erschwert.

Die Globalisierung als Inbegriff der Entgrenzung wird uns noch sehr lange erhalten bleiben. Ich sehe keinen Sinn darin und auch keinen gangbaren Weg, die Globalisierung rückgängig zu machen. Aber man wird sich mit den negativen Auswirkungen der Entgrenzung beschäftigen müssen. Es wird eine der spannendsten Aufgaben der Politik der nächsten Jahrzehnte sein, zumindest international gültige Regeln zu vereinbaren und durchzusetzen, die das Kapital wieder in die Schranken der Nützlichkeit für das Gemeinwohl zu weisen.

Dieses Projekt der Global Governance werden die Staaten nicht alleine bewältigen. Sie sind auf den Schulterschluss mit den nichtstaatlichen Akteuren der Zivilgesellschaft angewiesen. Diese vertreten auf jeweils spezifische Weise die Einhaltung von Regeln und die Begrenzung der Macht der wirtschaftlich Starken.

Ein wichtiges Thema ist die Umwelt. Das kühne Ignorieren der Grenzen des Wachstums während der achtziger und neunziger Jahre ist natürlich in keiner Weise gerechtfertigt. Das Entdecken neuer Gasfelder schiebt ja den Zeitpunkt der Erschöpfung lediglich hinaus, und es vergrößert die Treibhauseffektsorgen. Global Governance ist im Bereich der Umweltpolitik ganz besonders nötig. Und in praktisch jedem Fall müssen der klassischen Expansion Grenzen gesetzt werden.

Recht setzt Grenzen

Gültige und den Handlungsspielraum begrenzende Regeln sind etwas, was wir auf nationaler Ebene schon seit langem kennen und wertschätzen. Der Rechtsstaat ist eine der wichtigsten und reifsten Errungenschaften der politischen Zivilisation. Und was ist es, was wir so daran schätzen? Ganz einfach: Recht setzt Grenzen!

Jedes Recht begrenzt die Handlungsfreiheit eines oder mehrerer Akteure. Jedes Recht ist insofern auch eine Art Handelshemmnis. Indem wir das so konstatieren, machen wir sichtbar, dass schon in dem normativ einseitigen Wort „Handelshemmnis“ ein dicker ideologischer Kern steckt. Bei einigen Demonstrationen gegen die weitere Weltmarktliberalisierung haben sich Demonstranten mit Buttons oder Aufschriften geschmückt, auf denen stand „Ich bin ein Handelshemmnis“. Ihre ethischen Präferenzen, ihr Eintreten für bestimmte Rechtsstrukturen ärgert die Freihandels- und GATT/WTO-Ideologen.

Es geht etwa um das uralte Recht der Bauern, aus den Samen ihrer Feldfrüchten neue Pflanzen nachzuziehen; dieses Recht verteidigen sie gegen Saatgutkonzerne, die ein „geistiges Eigentum“ an neugezüchtetem Saatgut beanspruchen und dieses u.a. dadurch durchzusetzen versuchen, dass sie das Saatgut für die Weiterzucht unfruchtbar machen, durch das gentechnische Einsetzen von so genannten „Terminator-Genen“.

Das Recht schützt bei weitem nicht nur gegen Anmaßungen von Handelskonzernen. Es schützt generell die Schwachen. Aber es schützt auch die guten Sitten, ohne die eine Hochkultur nicht auskommt.

Der Nutzen von Grenzen

Dieser stenographische Einblick in die Nützlichkeit von durch den Rechtsstaat gesicherten Grenzen kann als Ausgangspunkt für eine allgemeinere Diskussion des Nutzens von Grenzen dienen.

Fangen wir mit primitivsten organischen Erfahrungen an. Was sind so nützliche Dinge wie unsere Blutgefäße oder unser Magen oder unser Schädel anderes als Grenzen? Stellen Sie sich vor, ein heimlicher Ökonom in meinem Körper befiehlt, die Blutgefäße als Handelshemmnisse zu entlarven und folgerichtig zu deregulieren! Ich wäre sofort tot.

Der Sinn von organischen Grenzen geht aber viel weiter. Einmal bis in die kleinsten Dimensionen. Lungenbläschen und Kapillaren, Zellwände und Zellkernwände, Mitochondrien und andere Zellorganellen sind tragende Säulen des physiologischen Funktionierens. Die allermeisten biochemischen Reaktionen finden nicht in einer flüssigen Lösung sondern an Membranen statt. Dort herrschen sehr spezifische und höchst unterschiedlichste Bedingungen vor, die die eine Reaktion begünstigen, die andere verunmöglichen. Und genau diese Differenzierung ist die Basis des mikrokosmischen Lebens.

Aber auch in der größeren Dimension sind Grenzen konstitutiv für das Leben. Die Haut oder das Fell, die Rinde oder der Chitinpanzer grenzen den Einzelorganismus von der Umwelt ab. Ohne diese Grenze wäre er nicht nur äußerst verletzlich, sondern auch außerstande, einen verlässlichen Stoffwechsel aufrecht zu erhalten.

Weiter geht es mit sozialen Grenzen. Rudel von Wölfen, Bienen- und Ameisenvölker, Familien von Schimpansen sind sorgfältig, aber stets mit einem gewissen Maß an Elastizität von anderen Artgenossen abgegrenzt. Dann kommt die Artgrenze, über die hinaus die Fortpflanzung nicht funktioniert. Dazwischen rangiert noch die lokale Population, manchmal auch die Rasse.

Angesichts der ökologischen Frage nach den Grenzen des Wachstums ist ein weiteres Grenzenphänomen beachtlich: dass Tiere, die in einer dem Lebensraum unzuträglichen Dichte leben, im „Dichtestress“ ihre Fertilität begrenzen. Auch beim Menschen ist die Fertilität in den Städten systematisch viel geringer als auf dem Lande, wozu allerdings auch viele andere Faktoren als die Dichte beitragen.

Weiter geht es mit der Evolutionstheorie. Charles Darwin hat ihr ihre endgültige Gestalt gegeben, nachdem er auf den Galápagos-Inseln gewesen war. Dort entdeckte er Finkenarten, die in der insularen Begrenzung die Fähigkeiten entwickelt hatten, die auf dem südamerikanischen Festland von Meisen, Kernbeißern, Spechten oder gar Vampirfledermäusen perfektioniert waren. Die specht-imitierenden Finken hatten gelernt, Kaktusdornen abzubrechen und damit als verlängertem Schnabel in der Borke nach Insekten zu suchen! Darwin wurde klar, dass die Isolation einer der großen Evolutionsfaktoren war. Denn ohne den Schutz der Insellage hätten die gestrandeten Finken nur gerade das fortsetzen können, was Finken besser können als andere Tiere.

Schutz der Schwächeren

Im Sinne des Kampfes ums Dasein sind die Specht-Finken den Festlandspechten natürlich unterlegen. Aber für die Evolution ist es gut, wenn das Kräftemessen gar nicht stattfindet. Ein dramatischer Unterschied zur globalisierten Ökonomie! Diese verlangt ja dogmatisch, dass jeder gegen jeden zu kämpfen hat, auf dass dann der allertüchtigste siegt.

Das ist eine erste wichtige Warnung gegen einen Sozialdarwinismus, wie er aus den Lehrbüchern der Ökonomie gelegentlich herausquillt und wie er in Herrenmenschen-Ideologien gedeiht. Dieser Sozialdarwinismus ist schlechter Darwinismus!

Diese Beobachtung lässt sich noch wesentlich weiter fortsetzen. Zur Erläuterung bedarf es aber einer historischen Vorbemerkung. Der Darwinismus hatte in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein wissenschaftliches Schattendasein geführt. Das lag daran, dass es als mathematisch überaus unplausibel erkannt worden war, dass sich aus den „Mutationen“, die man damals kannte und die fast durchweg Monstermutationen waren, jemals eine vernünftige Evolution ergeben könnte. Das änderte sich schlagartig nach 1930, als der „Neodarwinismus“ entstand. Seine Erfinder, J.B.S. Haldane, Ronald Fisher, Sewall Wright und später Julian Huxley entdeckten und akzeptierten minimale, also keineswegs monströse Mutationen als Hauptdarsteller der Evolution. Und sie fanden vor allem, dass die erdrückende Mehrzahl der Mutationen „rezessiv“ war, also phänotypisch gar nicht in Erscheinung trat, wenn sie mit einem „dominanten“ Wildtyp-Gen gepaart auftraten. Nur wenn das gleiche mutierte Gen von beiden Eltern vererbt auftritt, wird seine Eigenschaft sichtbar.

Die Rezessivität wurde von den Züchtern allgemein als höchst lästig angesehen, weil man ein als unerwünscht geltendes Gen praktisch nicht herauswerfen kann, weil es eben fast immer unsichtbar ist. Aber genau darin lag nun der Charme und die Erklärungskraft des Neodarwinismus für die tatsächliche Evolution auf der Erde. Im großen „Genpool“ einer Tier- oder Pflanzenart konnten sich über Jahrmillionen zig Millionen kleiner Veränderungen ansammeln. Kam dann einmal eine Bedrohung durch Klima, Hunger oder Parasiten, dann schrumpfte die Population und die statistische Wahrscheinlichkeit stieg vor allem in kleinen Rückzugsgebieten sprunghaft an, dass sich seltene Gene gleicher Art trafen, zur Ausprägung gelangten und ausprobieren konnten, ob sie mit der neuen Gefahr vielleicht besser fertig wurden als der Wildtyp. Und wenn das aus tausend Mutanten eine schaffte, dann war die Art vielleicht schon gerettet. Es stellte sich im Neodarwinismus als absolut zentral für die Evolution heraus, dass der überlegene Wildtyp die unterlegenen rezessiven Mutanten nicht ausrottete! Der Selektion werden zum Nutzen des Ganzen Grenzen gesetzt!

Der Schutz der Schwächeren tritt auch noch in anderen Zusammenhängen auf, etwa wenn Delphine kranke Artgenossen aktiv über Wasser halten oder wenn Leitwölfe eine Beißhemmung gegen schwächere Rudeltiere haben. Immer wieder stößt man auf Grenzen gegen das Austoben der Starken.

Bioethik heißt Anerkennung von Grenzen

Lassen Sie mich zum Abschluss auf die auf diesem Philosophenkongress wohl am heißesten diskutierte Frage der ethischen Grenzen insbesondere in der modernen Biologie eingehen. Es wird unvermeidlich oberflächlich, weil ich hier Laie bin.

Die moderne Biologie ist ganz ähnlich wie 150 Jahre früher die Physik und 100 Jahre früher die Chemie voll in den Sog der Wirtschaft geraten. An biologischen Instituten werden lukrative Drittmittelprojekte durchgeführt. Viele Professoren haben Firmen gegründet, mit denen sie ein stattliches Vermögen angesammelt haben. Auf dem Fuße folgt die Sorge um die Weiterbeschäftigung der Mitarbeiter. Und schon ist man als Biologe mitten in den heikelsten ethischen Kontroversen.

Wir haben es etwa an der Diskussion um die Forschung embryonalen Stammzellen gesehen. Die angesprochenen Ärzte waren alles andere als überzeugt, dass man diese Forschung braucht. Es waren die Wissenschaftler, die mit medizinischen Heilserwartungen auf den Lippen die Dringlichkeit dieses Forschungszweiges beschworen. Nicht zuletzt an der Universität Bonn. Wobei ich glaube beurteilen zu können, dass embryonale Stammzellen in der Tat wissenschaftlich sehr spannend sind. Damit sind auch Drittmittel und ehrenvolle Karrieren verbunden. Was mich gestört hat, ist die pseudo-medizinische Rechtfertigungslehre. Sie diente offensichtlich als Türöffner, um die Öffentlichkeit von der ethischen Richtigkeit des Forschungsansatzes zu überzeugen, – was man sich mit einer rein wissenschaftlichen Begründung nicht zugetraut hätte.

Mit Recht, denn das ökonomische, das Neugier- und das Karriereinteresse ist noch lange keine automatische Rechtfertigung für die beabsichtigte Grenzüberschreitung. Die bedeutet eben auch, das man jenseits dieser Grenze auf eine schiefe Bahn gelangen kann, an deren unterem Ende das Töten von menschlichem Leben für die Wissenschaft oder für die Gesundheit von Millionären stehen kann. Haben wir nicht die Schauergeschichten von verschwundenen Kindern aus brasilianischen Slums und von Spenderorganen mysteriösen Ursprungs gehört?

Vortrag beim Philosophenkongress am 25. September 2002 in Bonn