Von den Grenzen des Wachstums zur Nachhaltigkeit

Die „Grenzen des Wachstums“ (1) waren das bedrohliche Schlagwort der 70er Jahre. Der Club of Rome hatte einer perplexen Welt klar gemacht, dass die Trendfortschreibung des beispiellosen Wachstums der 50er und 60er Jahre in die Katastrophe führen würde. Der millionenfach verbreitete Report hat die Welt verändert. Er hat unzweifelhaft dazu beigetragen, dass in den Industrieländern der Umweltschutz ernsthaft angepackt wurde. Der Report hat sicher auch die OPEC zu ihren Preisschocks von 1973 und 1978 ermutigt. Alle Welt glaubte doch damals, Öl und Gas seien bald zu Ende, – warum sollten da die Eigentümer der knappen Ressource nicht ihre Marktmacht nützen?

Doch es kam, wie man es aus den Lehrbüchern der Marktwirtschaftslehre vorhersagen konnte: sobald die Preise für Öl und Gas stiegen, folgten gewaltige Explorationsanstrengungen und zugleich Einsparbemühungen. Schon 1982 gab es weltweit wieder einen Käufermarkt, und die Preise fielen schließlich – inflationsbereinigt – wieder auf das Niveau vor 1973. Auch beim Umweltschutz hatte die Anstrengung durchschlagenden Erfolg. Die Verschmutzung, die 1972 noch wie durch ein Naturgesetz an das Wirtschaftswachstum angekoppelt schien, wurde besiegt.

Die Welt schien wieder in Ordnung zu sein. Ausgehend von den USA wurde der Optimismus geradezu zur Bürgerpflicht erhoben und wurden Pessimisten verfemt. Dem Club of Rome wurde das Image der Schwarzmalerei angehängt (obschon er ja erstens die Wende mit eingeleitet hatte und zweitens inzwischen längst andere Themen wie die Informationsrevolution, den Armutsskandal und die „Global Governance“ aufgegriffen hatte.)

Das war auch die Zeit des politischen Rechtssrucks in den USA, Großbritanniens, Deutschlands und schließlich des gesamten Ostblocks. Der Staat war „out“, die Privatwirtschaft „in“.

Auch ökologisch sah sich die Lehre vom freien Markt gerechtfertigt. Nicht nur war der Umweltschutz im Westen erfolgreich, sondern im Osten erblickte man jetzt, wo die Informationen offen zu Tage lagen, lauter ökologische Katastrophen.

Doch lange konnte der Übermut nicht dauern. Zu tief ist in Wirklichkeit die Wahrheit von den Grenzen des Wachstums. Auch wenn die 1972 diagnostizierten Grenzen als zu eng erkannt wurden, bleibt doch die Tatsache unbestritten, dass die Erde endlich ist und dass Wirtschaftswachstum immer auf diese oder jene Weise mit dem Verbrauch von Natur verbunden ist. Eine besonders sinnfällige Art dieses zu beschreiben und zugleich quantitativ abzuschätzen, sind die „ökologischen Fußabdrücke“ nach Wackernagel und Rees (2). Sie sind bei einem typischen Mitteleuropäer etwa vier Hektar groß. Das heißt, dass pro Einwohner ständig rund vier Hektar benötigt werden, um die benötigten Güter und Dienstleistungen zu beschaffen. Das ist eine besonders sinnfällige Art, um sich dem neuen ökologischen Schlagwort zu nähern, der „Nachhaltigkeit“.

Deutschland oder die USA sind nach dieser Rechnung viel zu klein, um alle hier verursachten Fußabdrücke unterzubringen. Unser Lebensstil ist nicht nachhaltig. China und Indien sind hingegen überraschenderweise nach dieser Messlatte noch nicht überbevölkert. Allerdings tun sie wirtschaftlich alles, um endlich größere ökologische Fußstapfen zu bekommen. Das nennt man Entwicklung. Bloß, wenn alle 6 Milliarden Menschen so große Fußstapfen haben wie wir heute, dann bräuchten wir drei bis vier Erdbälle, um sie unterzubringen!

Schon heute reicht die Erde eigentlich nicht mehr aus. Sonst würden wir nicht jeden Tag rund zwanzig oder auch fünfzig Tier- oder Pflanzenarten verlieren und sonst müssten wir nicht um den Erhalt eines lebensfreundlichen Klimas auf der Erde bangen. Sonst würden die Weltmeere nicht bedenklich leergefischt sein, und sonst hätten wir keine unerträgliche Verkehrs- und Umweltsituation in allen Ballungsräumen der Dritten Welt. Eine Halbierung des weltweiten Naturverbrauchs ist so ungefähr das Mindeste, was man im Sinne der „Nachhaltigen Entwicklung“ fordern muss.

Gleichzeitig ist eine Verdoppelung des weltweit zur Verteilung kommenden Wohlstandes das allermindeste, was man realistischerweise erwarten und fairerweise auch fordern muss. Die Lücke zwischen dem ökologisch und dem wirtschaftlich nötigen beträgt mindestens einen Faktor Vier!

Die Antwort auf diese Herausforderung kann in erster Näherung darin gesucht – und gefunden – werden, dass man die Ressourcenproduktivität dramatisch steigert. Das nenne ich die Effizienzrevolution. In einer historischen Phase, wo vier Milliarden Menschen aus Entwicklungsländern dazu ansetzen, den amerikanisch-europäischen Wohlstand zu erreichen, gleichzeitig aber die Ressourcenbasis weltweit abnimmt (trotz intensivierter Erkundungs- und Ausbeutungsanstrengungen), ist eine solche Effizienzsteigerung nahezu unausweichlich. Sie verringert die Größe der ökologischen Fußstapfen entsprechen, aber ohne dass dabei der Wohlstand geopfert werden müsste.

Wenn es eine weltweite Notwendigkeit ist, dann wird es auch geschäftlich bald zwingend, den neuen Trend zu erkennen und in die Investitionsplanung einzubeziehen. Wer die Nase vorn hat, kann Märkte erschließen, die den langsameren verschlossen bleiben. Wenn ein ganzes Land sich auf die Herausforderung einlässt, dann sollte das zugleich gesamtwirt-schaftlichen Nutzen einbringen.

Dieser dramatischen Steigerung der Ressourcenproduktivität habe ich den schlagwortartig verkürzten Namen „Faktor Vier“ (3) gegeben. Ein Faktor Vier erlaubt gleichzeitig eine Verdoppelung des Wohlstands (weltweit) und eine Halbierung des Naturverbrauchs. Als Zeitrahmen können wir ein halbes Jahrhundert ansetzen.

In diesem Buch, das ich mit dem amerikanischen Forscherehepaar Amory und Hunter Lovins gemeinsam geschrieben habe, stellen wir zunächst 50 Beispiele dafür vor, wie man den magischen Faktor vier erreicht hat oder mit heutiger Technik erreichen kann. Das fängt mit dem Wohn- und Arbeitshaus des Ehepaars Lovins an, dem Rocky Mountain Institute. Hoch oben in Eis und Schnee, wo andere Häuser gigantische Gas-, Öl- und Stromrechnungen haben, ist das Rocky Mountain Institut ein Netto-Energieerzeuger. Es braucht fast keine Energie. Es ist vorzüglich isoliert und bezieht die rund 20 Mitarbeiter mit ihren 37 Grad Körpertemperatur in die Heizungsbilanz systematisch ein. Damit die Luft gut bleibt, grünt drinnen ein tropischer Mini-Urwald, und gibt es eine Wärmeaustausch-Belüftung, bei der die ausströmende verbrauchte Warmluft die hereinkommende kalte Frisch-luft aufwärmt. Erst wenn draußen grimmige Kälte herrscht, dann erlaubt man sich auch noch einen oder zwei alte Kanonenöfen, die etwas Holz aus dem Garten verbrennen dürfen.

Das Energiesparhaus gibt es auch in Deutschland. In Darmstadt wurde zunächst, im wesentlichen nach Lovins‘ Erkenntnissen, das „Passivhaus“ gebaut, das außer passiver Sonnenenergie kaum Energie von außen braucht, vielleicht noch 10% der ortsüblichen Heizenergie. Mittlerweile ist die Passivhaustechnologie durch kostengünstige Vorfertigung und kurzen Bauzeiten auch preislich mit Normalbauten konkurrenzfähig.

Ein zentrales Faktor-Vier-Beispiel in unserem Buch ist das derzeitige Lieblingsthema von Amory Lovins, das „Hyperauto“. In der deutschen Diskussion klingt es oft so, als sei das technologische Ziel das „Fünfliterauto“, das Auto mit einem Spritverbrauch von 5 Litern pro hundert. Das ist nach Amory Lovins die Diskussion von gestern. In Wirklichkeit geht es an der technologischen Front um ein Auto, welches einen Spritbedarf von anderthalb bis zwei Litern hat. Ein solches Auto wurde von Amory Lovins und seinen Mitarbeitern völlig neu konzipiert. Durch Leichtbauweise und Hybridmotoren kam Amory Lovins auf Konstruktionen, die gut viermal so energieeffizient sind wie die heutige Autoflotte. Die Idee setzt sich, allerdings langsam, bei den Autobauern der Welt durch.

Ein weiteres Faktor-Vier-Beispiel ist die allseits bekannte, aber noch keineswegs überall genutzte Sparlampe. Aber beim Stromverbrauch im Haushalt geht es nicht nur um Lampen. Praktisch alle stromverbrauchenden Haushaltsmaschinen kann man um einen Faktor vier effizienter haben.

Noch weiter geht es mit der Energie- und der Stoffproduktivität, wenn man nicht nur an einzelne Fahrzeuge, Häuser oder Maschinen denkt, sondern an die ganze Produktionskette. Den Ausgangspunkt bildet stets die Zufrieden-heit des Kunden, des Endnutzers. Wir versuchen, möglichst viel Nutzerzufriedenheit mit möglichst wenig Energie- und Stoffaufwand zu erreichen. Die Langlebigkeit von Produkten, die Energieeffizienz aller Vorprodukte, das Recycling und die elegante elektronische Steuerung des Energieeinsatzes sind Elemente für die Erhöhung der Ressourcenproduktivität.

Auch der Übergang vom Stofftransport zur Elektronik kann die Ressourcenproduktivität gewaltig steigern. Selbst wenn man alle Stoff- und Energieverbräuche, die mit der elektronischen Hardware und ihrer Herstellung verbunden sind, zusammenrechnet, benötigt dennoch ein e-mail weniger als ein hunderstel der Ressourcen eines zwanzig Gramm schweren Briefes. Analoges gilt von Videokonferenzen als Ersatz für Geschäftsreisen.

Die Faktor-vier-Entwicklung wird im historischen Kontext einer Neuausrichtung des technischen Fortschritts gleichkommen. Der bisherige technische Fortschritt war im wesentlichen durch die Erhöhung der Arbeitsproduktivität definiert. Sie ist im Laufe der Industriegeschichte um mehr als einen Faktor zwanzig gestiegen! Auch die Kapitalproduktivität hat mit dem technischen Fortschritt zugenommen, aber da ist es etwas schwieriger, eine Zahl anzugeben. Was eindeutig etwa hundert Jahre lang überhaupt nicht gestiegen ist, ist die Produktivität des Faktors Natur. Während der ersten hundert Jahre Industrialisierung ist etwa der Energieverbrauch sogar schneller gestiegen als das Bruttosozialprodukt. Die Energieproduktivität hat damals also abgenommen.

Gleiches gilt von der Stoffproduktivität. In manchen Entwicklungsländern ist das sogar heute noch der Fall. Bei uns hat die Ressourcenproduktivität seit gut fünfzig Jahren leicht zugenommen, um etwa ein Prozent pro Jahr, seit der Ölkrise von 1973 sogar um etwa 2 Prozent pro Jahr, aber nicht rasch genug, um den Gesamtanstieg des vom deutschen Konsum ausgelösten Energie- und Stoffverbrauchs zum Stillstand zu bringen; denn ein erheblicher Teil dieses Energieverbrauchs ist indirekt. Wenn wir Aluminium aus Russland oder Norwegen oder Kanada importieren statt es bei uns zu schmelzen, sieht es so aus, als würden wir energie-sparsamer, das ist aber eine Täuschung.

Von alleine wird die Neuausrichtung des technischen Fortschritts nicht zustande kommen. Es ist unter den heutigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen meistens schlicht rentabler, ständig Mitarbeiter wegzurationalisieren als Kilowattstunden, Tonnenkilometer oder Quadrat-meter Land. Dies liegt großenteils an der Subventionierung von Transporten, Energie- und Landverbrauch und an dem in fast allen Staaten wirksamen politischen Bemühen, die Energiekosten niedrig zu halten.

Damit die Effizienzrevolution breit in Gang kommt, muss der Rahmen geändert werden, nicht zuletzt der steuerliche. Die Steuerlast auf der menschlichen Arbeit muss abnehmen, die beim Naturverbrauch zunehmen. Das ist der Grundgedanke der ökologischen Steuerreform, die als Prinzip von keiner Seite mehr bestritten wird. Ein weiteres ökonomisches Instrument des Klimaschutzes und der Effizienzverbesserung sind handelbare CO2-Emissionserlaubnisse, wie sie sich im Rahmen der Umsetzung des Kioto-Protokolls der Klimarahmenkonvention langsam durchsetzen. Sofern sie nicht durch Atomenergie oder trostlose Forst-Monokulturen missbraucht werden können (das ist teilweise noch Verhandlungssache), können sie noch effizienter sein als die Ökosteuer.

Die Bundesregierung hat mit ihrer vor kurzem beschlossenen Nachhaltigkeitsstrategie 21 Indikatoren für die Nachhaltigkeit angegeben, darunter auch das ehrgeizige Ziel, den täglichen zusätzlichen Landverbrauch auf ein Viertel des heutigen Wertes zu verringern. Im ersten Indikator geht es um die Erhöhung der Ressourcenproduktivität, und hier heißt es, dass man mittelfristig eine Vervierfachung, also einen Faktor vier anstrebt.

Für heutige Schulen wird die Nachhaltigkeit zum Zentralbegriff. Er mag heute noch vielen Menschen unbekannt sein. Aber das war vor zwei Jahrhunderten mit dem Begriff der Demokratie auch so. Wenn Deutschland im geistigen Wettbewerb, aber auch im technologischen Wettbewerb weltweit mithalten möchte, kommt es nicht darum herum, die Nachhaltigkeit zu einer sehr hohen politischen und schulischen Priorität zu machen.

Dem Ministerium für Umwelt und Verkehr des Landes Baden-Württemberg ist für die Initiative zum Schulforum 2002 in Verbindung mit der großartigen Ausstellung hier auf dem Killesberggelände zu danken. Ich wünsche Ihrer Initiative einen großen Erfolg an den baden-württembergischen Schulen!

(1) Meadows, Dennis, Donella Meadows, Jorgen Randers und William Behrens. Die Grenzen des Wachstums. Stuttgart: DVA

(2) Wackernagel, Matthis und William Rees. Unsere ökologischen Fußabdrücke. Basel: Birkhäuser

(3) Ernst Ulrich von Weizsäcker, Amory und Hunter Lovins. Faktor Vier. Doppelter Wohlstand, halbierter Naturverbrauch. München. 1995/1997

Vortrag von Ernst Ulrich von Weizsäcker beim Schulforum 2002 in Stuttgart