Impulsreferat von Ernst Ulrich von Weizsäcker zum Programm „Denn Recht muss doch Recht bleiben“. Stärkung oder Schwächung der Menschenrechte durch Globalisierung? Deutscher Evangelischer Kirchentag in Bremen, 23.5.2009.
Recht, wo bist du? Eine wunderbare, der Kirchentagslosung gemäße Frage. Und ich wäre der glücklichste Mensch heute Abend, wenn ich sie beantworten könnte.
Ich bin leider kein Jurist. Ich kann eigentlich nur versuchen, ein paar Gedanken zur politischen und moralischen Lage beizusteuern. Die Gedanken orientieren sich an drei Fragen, die aber zu beantworten weit über meine Kräfte und den Zeitrahmen eines Impulsreferats hinausginge.
Da ist erstens die Frage, wie es dazu kam, dass in unseren Tagen eine solche provokante Frage überhaupt aufkommt.
Zweitens die Frage, wo heute massiv Unrecht geschieht. Und wo es Unrecht durch Abwesenheit von Recht und wo es Unrecht durch ungerechte Rechtssetzung ist.
Und drittens die Frage, was wir tun können und was für Kräfte wir mobilisieren können, um dem Psalmenspruch wieder zur Geltung zu verhelfen, dass Recht doch Recht bleiben muss.
Wir feiern heute den 60. Jahrestag des Grundgesetzes. Dieses war die Grundlage für einen demokratischen Rechtsstaat, wie ihn Deutschland nie zuvor genossen hat. Das hat die Zeit nach 1949 zu einer guten Zeit gemacht, – für uns Deutsche und auch für die Nachbarländer, die zum ersten Mal seit langer, langer Zeit keine Angst mehr vor uns Deutschen haben mussten.
Die Deutschen in der DDR hatten es da nicht so gut. Dort standen die Partei und die Staatssicherheit über dem Recht. Und Nazi-Deutschland war eine Katastrophe unter Rechtsgesichtspunkten, – und nicht nur unter diesen. Die Weimarer Republik war politisch und wirtschaftlich schwach, und die Verfassung erwies nicht als tragfähig gegenüber den Kräften der politischen Zerstörung von innen und von außen. Im Kaiserreich hatte sich immerhin die Grundlage unseres Rechts auf der Basis des Allgemeinen Preußischen Landrechts gebildet. Aber der Staat und die Moral waren doch noch sehr autoritär und vom militärischen Denken durchzogen.
Genug der älteren Geschichte. Kommen wir zur neueren.
Die einmalig günstige Situation nach dem Zweiten Weltkrieg hat uns ein neues, alle Schichten des Volkes ergreifendes Rechtsgefühl ermöglicht. Von dieser Warte eines gesicherten Rechtsstaates aus kann man die Frage stellen: Recht, wo bist du?, wenn es einmal nicht mehr so selbstverständlich erscheint.
Was ist geschehen, dass man heute eine solche provokante Frage stellen möchte? Im Kern behaupte ich, dass das eine Folge der Globalisierung war. Und ich behaupte, dass das, was wir heute Globalisierung nennen, ein Kind der 1990er Jahre war.
Bis zum Ende der 1970er Jahre wurde die Staats- und Rechtsautorität in der Bundesrepublik allenfalls von den aufmüpfigen „68ern“ in Frage gestellt. Doch die inzwischen alt gewordenen 68er sind heute mit die besten Unterstützer des demokratischen Staates geworden.
Aber dann in den 1980er Jahren setzte eine politisch entgegengesetzte Bewegung der Staatsverachtung und der gleichzeitigen Verherr-lichung des Marktes ein, ausgehend zunächst von der Chicagoer Ökonomenschule, dann aber in den angelsächsischen Ländern Großbritannien, USA, Neuseeland, Australien quasi zur Staatsreligion erhoben. Und dann, als der Kommunismus 1989/90 zusammenbrach, wurde diese Marktanbetung zu einer Art Weltreligion.
Bis 1989 hatte das Kapital noch einen guten Grund, den Staat, die Demokratie zu respektieren und finanziell zu tragen und progressive Steuern sowie nennenswerte Unternehmens- und Kapitalsteuern zu tolerieren. Denn der demokratische Staat war das beste ideologische Bollwerk gegen den Kommunismus.
Als dieser aber besiegt war, fielen die Schamgrenzen, und nun galt der soziale Ausgleich, um den die Demokratie bemüht war, nur noch als Kostenfaktor. Die Kostenkonkurrenz wurde zum bestimmenden Faktor des Wettbewerbs. Aus Kostengründen wurde die Herstellungskette global aufgesplittert, und möglichst viel wurde in Länder mit niedrigen Löhnen und schwachen Rechtsstrukturen ausgelagert. Das Kapital wurde als ein „scheues Reh“ dargestellt, welches sich beim leisesten Geräusch zurückzieht. Und selbstverständlich wurden Unternehmenssteuern, gewerkschaftlich organisierte Mitbestimmung und Umweltschutz als schreckliche Geräusche aufgefasst.
Die Staaten kamen unter höllischen Druck, den Investoren zu gefallen, den Sozialstaat zurückzufahren, zu deregulieren, und der Kostenreduktion alle Wege zu ebnen und Tore zu öffnen.
1994 wurde auch die Welthandelsorganisation WTO eingerichtet, die inzwischen mächtigste UNO-Sonderorganisation, und voll dem freien Handel verschrieben.
In dieser Lage ist es immer schwieriger geworden, bestehendes Recht durchzusetzen und neues zu schaffen. Für die Deregulierungsfanatiker hieß die Devise – in Anlehnung an einen makabren Spruch aus dem ‚Wilden Westen‘: „Nur getötetes Recht ist gutes Recht“.
Nein, das ist übertrieben. Gutes Recht für die Fanatiker war auch das Recht auf freien Handel, aber das ist eben auch die Abwesenheit von Recht, welches den Handel in irgendeiner Weise behindert.
Das ist also die Großwetterlage, in welcher man zu der zugespitzten Frage kommen kann „Recht, wo bist du?“
Wo geschieht heute massiv Unrecht? Und wo ist es Unrecht durch Abwesenheit von Recht und wo ist es Unrecht durch ungerechte Rechtssetzung?
Den in den 1960er Jahren und danach unabhängig gewordenen Länder Afrikas und anderer Erdteile ist es unter den Bedingungen der Armut und des globalisierten Zwangs zur Kostenminimierung so gut wie unmöglich, einen Rechtsstaat mit der hierfür notwendigen Richterschaft und Polizei zu finanzieren. Im Rahmen der Freihandelsideologie und den Verhandlungen, die zur Gründung der WTO geführt haben, ist diesen Staaten meist noch die ergiebigste Einkommensquelle weggenommen worden, nämlich Zölle.
Gleichzeitig wurde den oft tief verschuldeten Staaten durch den sog. Washington Konsens (zwischen Internationalem Währungsfonds IWF, Weltbank und dem US Finanzministerium) praktisch verunmöglicht, noch echte Sozialpolitik zu machen. Weil es also praktisch kein Recht für die Armen mehr gab, wurde zum Ausgleich verlangt, dann wenigstens Recht für die Reichen zu schaffen, nämlich die Investitionen der internationalen Firmen rechtlich zu schützen. Und wo nicht einmal das funktionierte, redete dann die internationale Gemeinschaft der Besserwisser von „failed states“ und behauptete, das läge alles an der Korruptheit der Staatsdiener. Wobei das Bestechen von Regierungsbeamten bis 1999 in Deutschland sogar noch steuerabzugsfähig war. Nun – diesen Missstand hat dann die rot-grüne Koalition wenigstens beenden können.
Insgesamt scheint mir, dass die Abwesenheit von Recht vor allem für die Ärmsten der Armen das große Problem ist. Die Reichen scheinen immer wieder Wege zu finden, mit oder ohne Recht, ihre Ansprüche durchzusetzen.
In dieser Lage Menschenrechte durzusetzen, ist natürlich sehr harte Arbeit. Meine Bewunderung gilt Amnesty International und vielen anderen Menschenrechtsorganisationen und vor allem ihren mutigen Partnern in den von Menschenrechtsverletzungen geplagten Ländern.
Lassen Sie mich kurz ein Beispielfeld ansprechen, wo die Schaffung von neuem Recht das Unrecht eher vermehrt als vermindert hat. Es ist der „Schutz des geistigen Eigentums“, wie es so schön heißt. Wer wäre nicht für den Schutz des geistigen Eigentums? Man denkt dann an den armen Poeten oder den Garagentüftler und Erfinder, der vor den Raubzügen der Massenverwerter seines geistigen Eigentums geschützt werden muss. Als das Patentrecht, das Urheberrecht und das Markenrecht eingeführt wurde, teilweise schon vor über 200 Jahren, war diese romantische Beschreibung auch noch recht zutreffend.
Heute aber, nach TRIPS, (Trade Related Intellectual Property Rights) ist das Patentrecht im wesentlichen zu einer Waffe in der Hand der Starken gegen die Schwachen geworden. Es ist im Kern ein Partikularinteressenrecht und steht, wie man an dem Streit um erschwingliche Medikamente für Tropenkrankheiten und AIDS sah, oft gegen die Interessen der breiteren Öffentlichkeit. Besonders unnachgiebig wird das internationale Patentrecht durch das mächtigste Land der Erde ausgenutzt und mit Heerscharen bestbezahlter Anwälte vor zumeist amerikanischen Gerichten durchgesetzt. In solche Prozesse einzugreifen ist Bäuerinnen in Indien oder Bolivien oder Tansania alleine schon finanziell vollkommen unmöglich. Und oft geht es um die Durchsetzung von Eigentümerrechten an patentiertem Saatgut, welches die Situation der lokalen Bauern meist überhaupt nicht verbessert, sondern verschlimmert.
Man könnte noch stundenlang über Rechtsverletzungen und Rechtsabwesenheit, fast immer zu Lasten der Schwachen sprechen. Ich wende mich aber jetzt stattdessen noch kurz der dritten Frage zu, was wir tun können und was für Kräfte wir mobilisieren können, um dem gutem Recht wieder zur Geltung zu verhelfen.
Das erste und vielleicht wichtigste ist, dass wir uns in Deutschland und weltweit klar machen, dass die neokonservative Revolution seit Thatcher und Reagan, kulminierend in den späten 1990er Jahren mit dem Phänomen Globalisierung zu einem Frontalangriff auf das Recht der Schwächeren geworden ist. Wir müssen um dieses Rechts willen dringend wieder eine vernünftige Balance zwischen Staat und Markt herstellen. Nachdem sich die einst so arroganten Finanzmärkte 2008 so jämmerlich blamiert haben und eine weltweite Wirtschaftkrise ausgelöst haben, sollte der Weg für die Wiederherstellung der Balance wieder geebnet sein.
Der Gedanke der Balance führt zur Forderung internationaler Rechtsstrukturen, denen die findigen Investoren und Konzerne nicht mehr ausweichen können. Sie könnten sich dann nicht mehr ein Land herauspicken, wo die Kernarbeitsnormen der ILO verletzt werden, weil sie internationale einklagbare Gültigkeit erlangt haben, – so meine Hoffnung und Forderung.
Eine weitere Komponente nach der Aufklärung und Analyse ist die Stärkung der internationalen Zivilgesellschaft. Vertreter aus diesen Gruppen müssten als Kläger bei Gericht zugelassen werden. Und sie müssen auch über die Medien die internationale Aufklärung voran treiben.
Weiter könnte ich mir vorstellen, dass eine Finanzierung von Rechtsstaatsstrukturen in den ärmsten Ländern eine der wichtigsten Aufgaben für die internationale Gemeinschaft wäre. Warum nicht die alte Idee der Tobinsteuer auf internationale Kapitaltransaktionen und die Nutzung ihrer Erträge für diese Aufgabe, die letztlich auch dem Kapital zuträglich ist?
Ein völlig anderes Kapitel, das ich hier nur erwähnen, nicht ausfüllen kann, ist die Durchsetzung langfristiger und ökologischer Anliegen wie des Klimaschutzes oder des Schutzes der biologischen Vielfalt.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang eine große Sorge vortragen. Der Konvention zum Schutz der biologischen Vielfalt – CBD – fehlt bislang das Analog zum Kioto-Protokoll, nämlich ein Protokoll für „Zugang und fairen Vorteilsausgleich“, auf englisch „Access and Benefit Sharing“. Dieses Prinzip, das dem biodiversitätsreichen Süden den Schutz seiner Vielfalt und die Zugänglichkeit der biologischen Ressourcen auferlegt und dem finanzstarken Norden einen finanziellen Ausgleich an den Süden, ist Kernsäule der 1992 beschlossenen Konvention, harrt aber 17 Jahre später immer noch auf seine Konkretisierung in einem Protokoll. 2010 soll es endlich beschlossen werden, hieß es letztes Jahr bei der CBD-Konferenz in Bonn. Aber jetzt mauern Europäer und andere Vertragsstaaten total, und ich sehe noch nicht, wie die Vertragsstaatenkonferenz in Nagoya nächstes Jahr auch nur einen Schritt weiter kommt. In der Zwischenzeit haben große Biopiraterie-Feldzüge insbesondere durch die USA stattgefunden, die die Konvention bis zur Sinnlosigkeit aushöhlen. Auch dies ist ein Rechtsskandal, der unbedingt überwunden werden muss!
Die Frage „Recht, wo bist du“, ist mit diesen skizzenhaften Ausführungen noch lange nicht beantwortet. Aber die Veranstaltung ist ja auch erst am Anfang.