Demokratie und Freiheit waren Ziele der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Wir haben uns daran gewöhnt und halten beides für Selbstverständlichkeiten. Doch heute, 15 Jahre nach dem Fall der Mauer, stehen wir unerwartet vor einer Krise der Demokratie. Schlimmer noch: Der Fall der Mauer hat ursächlich mit der neuen Schwäche der Demokratie zu tun.
Wie das? Vor 1990, als der Ost-West-Konflikt noch das alles bestimmende Thema war, hatte das Kapital hatte ein massives Interesse daran, zu beweisen, dass die Marktwirtschaft dem Kommunismus auf alle Fälle vorzuziehen ist, auch für die Schwachen. Diese Interessenlage hat die Soziale Marktwirtschaft ermöglicht und die Demokratie stabilisiert. Seit 1990 ist dieses Kapital-Interesse weg. Plötzlich herrscht ein unnachgiebiger globaler Standortwettbewerb um die besten Bedingungen für die Maximierung der Kapitalrendite. Plötzlich müssen sich die Staaten verrenken, um die Wünsche der Investoren zu erfüllen. Die Investoren sind zu Hauptauftraggebern der Politik geworden. Die Wähler schauen verängstigt zu. Das ist der Kern der Demokratiekrise.
Wie kommen wir dem Problem bei? Ich behaupte, dass wir die Aufklärung neu verstehen müssen. Heute entdecken wir, dass es nicht eine Aufklärung gab, sondern zwei! Es gab und gibt die angelsächsische und die kontinentaleuropäische Aufklärung. Aber es gab auch starke Gemeinsamkeiten. Die Befreiung der Menschen vom autoritären Fürstenstaat war das gemeinsame Ziel aller Aufklärer. Zu ihnen gehörten Montesquieu, John Locke, Rousseau und Kant.
In England kam aber noch einer dazu, der dort immer mehr ins Zentrum rückte: Adam Smith. Er hatte den kühnen Gedanken, dass die Verfolgung des Eigennutzes Wohlstand schafft, welcher, vermittelt über die Unsichtbare Hand, letztlich allen zugute kommt. Dafür braucht man nicht nur Freiheit und Demokratie, sondern auch den Markt. Aber der Markt sollte sich wegen der Wohlstandvermehrung auch für die Demokratie als großer Segen erweisen: Es gab auch was zu verteilen.
200 Jahre lang überwogen die Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Wahrnehmungen der Aufklärung. Es ja auch gemeinsame Gegner, die Fürsten, später die Faschisten und schließlich die Kommunisten. Sie alle bekämpften sowohl die Demokratie wie die Freiheit wie den Markt.
Im angelsächsischen Raum verfestigte sich sogar die Auffassung, dass ein Konflikt zwischen Demokratie, Freiheit und Markt prinzipiell unmöglich ist. Wenn Präsident Bush 2003 sagte, er bringe die Demokratie in den Irak, dann meinte er damit auch, dass er den Markt dorthin bringt. Viele Menschen im Irak finden diese Auffassung befremdlich, ja schockierend. Auch wir in Deutschland oder Frankreich oder die Südamerikaner fühlen uns unwohl bei dieser Gleichsetzung. Und es ist auch logisch gar nicht zwingend, dass Markt und Demokratie zusammen gehören. Singapur und China haben viel Markt und wenig Demokratie. Schweden hatte lange Zeit viel Demokratie und wenig Markt.
Nach 1990, wo nun die gemeinsamen Gegner der Aufklärung weitgehend verschwunden sind, ist die Harmonie der beiden Formen der Aufklärung auseinander gebrochen. Jetzt entdeckt man, was der Marktguru Friedrich von Hayek schon vor Jahrzehnten sagte, dass die Demokratie ökonomisch „ineffizient“ ist. Und die Wirtschaft singt das Lob von Singapur und China, wo es viel Markt und wenig Demokratie gibt.
Die „Effizienz“ ist für die Ökonomie der Schlüsselbegriff. Sie dient dem heutigen Zeitgeist der Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung als Rechtfertigung. Aber die Ökonomie hat keine guten Antennen für die langfristige Ineffizienz der Märkte, des ökologischen Raubbaus, der riesigen und wachsenden sozialen Ungleichheit. Die Globalisierung nach 1990 hat diese Gefahren rasant verschärft.
Adam Smith’s „Effizienz“ beruhte darauf, dass zu seiner Zeit die geographische Reichweite des Gesetzes und die des Marktes im wesentlichen gleich war. Auch wenn es internationalen Handel gab, blieben die britischen Firmen doch voll und ganz dem britischen Gesetz unterworfen. Und die Demokratie entwickelte auch die Gesetze für Firmen weiter. Das Volk hatte also ein legitimes und legales Sagen über die Wirtschaft. Es blieb nicht alles den Aktionären und dem ökonomischen Effizienzgebot überlassen.
Die Globalisierung hat diese geographische Kohärenz zerstört. Der Markt ist global geworden, das Gesetz blieb national. Mühsam entwickeln wir in der EU wenigstens einen gemeinsamen Gesetzesrahmen. Aber selbst die für die Fairness auf dem Markt so zentralen Unternehmenssteuern haben wir überhaupt nicht harmonisiert. Irland, Estland, Slowakei und die britischen Kanalinseln trumpfen mit Dumpingsteuern auf. Aber wehe, wenn einer nach einer anständigen Bandbreite ruft, dann kommen sofort die Briten und sagen, das sei unmöglich.
Wenn wir Markt und Demokratie wieder ins Lot bringen wollen, müssen wir drei Dinge tun:
Erstens müssen wir es zum erklärten politischen Programm machen, die geographische Kohärenz zwischen Markt und Gesetz wieder herzustellen. Das gilt für Europa und weltweit. Das, was der Markt nicht von sich aus produziert, also Menschenrechte, soziale Kohärenz oder Umweltschutz, müsste in verbindliche Regeln gefasst werden. Nicht nur die WTO braucht Muskeln, sondern auch UNEP und ILO! Das ist ein langer Weg, aber die Bevölkerungsunterstützung dafür nimmt stetig zu.
Zweitens müssen wir demokratisch gesonnene internationale Gegenkräfte entwickeln gegen die kurzfristige und in vielen Fällen brutale Logik des Wettbewerbs. Hier denke ich insbesondere an die Zivilgesellschaft. In Seattle 1999 hat sich da etwas formiert. In Porto Alegre hat es sich weiterentwickelt. Und in Mar de la Plata hat es dieser Tage einen bedeutenden politischen Erfolg gefeiert, nachdem sich südamerikanische Regierungen mit ihrem Volk endlich einmal gegen die Marktdominanz zur Wehr gesetzt haben.
Drittens müssen wir uns und unseren angelsächsischen Freunden klar machen, dass das Jahr 1990 zweihundert Jahre der Gemeinsamkeit der Aufklärung zum Einsturz gebracht hat. Solange das Märchen übermächtige Gültigkeit hat, dass sich Markt und Demokratie unwiderruflich gegenseitig unterstützen, wird eine Weltbewegung für soziale Gerechtigkeit, für Demokratie und für Langfristigkeit nicht mehrheitsfähig. Die Aufklärung dient also der Entzauberung jenes zerstörerischen Märchens.
Erschienen in: TAZ, November 2005