„Balance zwischen Öffentlichem und Privatem nötig“

Der Wissenschaftler und Politiker Ernst Ulrich von Weizsäcker sagt nicht generell nein zu Privatisierung. Aber er sieht Privatisierung kritisch. „Wir müssen genau hinschauen“, sagt er in einem Interview mit dem StandOrt. Und der Staat müsse sicherstellen, dass er auch weiterhin Einfluss darauf hat, dass Arme Zugang zu lebensnotwendigen Gütern oder Dienstleistungen erhalten.

StandOrt: Was stört Sie daran, wenn bisher öffentliche Aufgaben von Privaten erledigt werden?

Weizsäcker: Es ist kein Zufall, dass öffentliche Güter vom Staat besorgt werden – und zwar in den meisten Gesellschaften. Denn die Daseinsvorsorge ist eine der zentralen Aufgaben des Staates, und in der Demokratie achtet das Volk sehr darauf, ob der Staat dieser Pflicht genügt. Wenn Private diese Güter bereitstellen, dann gilt die Logik der Gewinnerzielung. Bei Kaviar und Sportwagen ist das ok, beim Lebensnotwendigen nicht.

Sie sagen, es braucht eine Balance zwischen Öffentlichen und Privat. Worin besteht diese Balance?

Balance ist ein hohes Gut. Wir wollen eine Balance: zwischen Ordnung und Freiheit, zwischen dem Leistungsprinzip und der Solidarität, zwischen Ökonomie und Ökologie und eben auch zwischen Öffentlichem und Privatem. Wenn es diese Balance nicht gibt, kommt etwas ins Rutschen. Die Privatwirtschaft hat von sich aus kein Gerechtigkeits-Motiv. Der demokratisch verfasste Staat hingegen hat einen Wählerauftrag, die Ungleichheit in Grenzen zu halten.. Seit dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems, also etwa seit 1990, ist die Balance zugunsten des Privaten gestört. Bis dahin hatte die Privatwirtschaft und hatten auch die Reichen ein Interesse daran, dass das Volk mit der freiheitlichen Demokratie zufrieden war, – als Schutzwall gegen den Kommunismus. Seit dieses Motiv für Gerechtigkeit und Staat verschwunden ist, ist vielerorts die Staatsverachtung in Mode gekommen.

Das Kapital hat die Staaten immer mehr gegeneinander ausgespielt und dadurch geschwächt. Sie wurden in einen Wettbewerb um die niedrige Steuern und Abbau von Sozialleistungen gedrängt. Das ist der sozialpolitische Kern der Globalisierung. In praktisch allen Ländern  hat sich der Abstand zwischen Arm und Reich vergrößert – auch in Ländern mit guten Wachstumsraten wie USA, China oder Indien. und auch in Ländern wie Schweden und Deutschland, wo die Kluft zwischen Arm und Reich früher geringer war.

Es heißt, gerade Arme brauchen einen starken Staat. Sehen Sie das auch so?

Das sehe ich auch so, vor allem wenn es um die Daseinsvorsorge geht. Und deshalb steht für mich außer Frage, dass diese Aufgabe auch in den reichen europäischen Ländern öffentliche Aufgabe bleiben muss. Grundbildung, Infrastruktur, Umweltschutz, Innere Sicherheit dürfen nicht vom Geldbeutel abhängig werden. Die Steuerfinanzierung öffentlicher Leistungen bedeutet, dass die Starken mehr zur Finanzierung herangezogen als die Schwachen.

Mit Privatisierung wurde auch immer die Erwartung auf eine höhere Effizienz verbunden. Wurden diese Erwartungen erfüllt?

Manchmal wurden diese Erwartungen erfüllt, oft aber auch nicht. Es kommt sehr darauf an, wie man Effizienz definiert. Wenn man dogmatisch behauptet, bei der Privatisierung der Bahn bleibe die Leistung gleich, aber der Personalbestand sei halbiert worden (das ist eine Faustformel in Großbritannien) und daher hätte sich die Effizienz verdoppelt, dann lügt man sich in die Tasche. Die Leistung ist nämlich deutlich schlechter geworden. Und die Arbeitslosigkeit unter ehemaligen Eisenbahnern hatte natürlich auch erst einmal einen hohen Preis. Bei den Telefongesellschaften ist das Bild besser. Weltweit, auch in Deutschland sank der Preis für diese Leistung nach der Privatisierung. Wie viel davon auf die privatwirtschaftliche Konkurrenz und wie viel auf den technischen Fortschritt zum Mobiltelefonieren zurückgeht, ist schwer zu sagen. Das Beispiel Uruguay, wo nicht privatisiert wurde, aber die Verbilligung ebenfalls eintrat, zeigt, dass die Kausalität nicht so einfach ist. Man muss bei der Effizienzfrage immer genau hinsehen.

Sie stehen Privatisierung generell skeptisch gegenüber?

Nein, ich bin nicht prinzipiell gegen Privatisierungen. Man muss aber jedes Vorhaben dieser Art ganz genau unter die Lupe nehmen. Und es darf auf gar keinen Fall sein, dass aus Prinzip dem Privaten der Vorzug vor dem Öffentlichen gegeben wird – wie manche Politiker nach wie vor predigen. Bei einer Privatisierung geht es immer um öffentliche Güter und öffentliches Interesse – beides darf nicht unter die Räder kommen.

Welche Privatisierungen würden Sie am liebsten rückgängig machen?

Da gibt es einige – gerade in Deutschland. Die deutsche Gebäudeversicherung war in vielen Bundesländern ein Staatsmonopol, und dieses war ökonomisch effizienter als die privatwirtschaftliche Lösung. Aufgrund einer europäischen Richtlinie wurde hier liberalisiert und dann privatisiert, und siehe da: die Kundentarife stiegen um gut 50 Prozent! Das lag hauptsächlich an den Kosten der Kundenwerbung, die das frühere Monopol nicht hatte. Beim Strom war es ökologisch vorteilhaft, dass die Stadtwerke früher ehrgeizige Effizienzprogramme auflegten.

In Entwicklungsländern ist vieles viel schlimmer. Wenn arme Familien das Wasser oder gute Bildung nicht mehr bezahlen können, haben wir ein echtes Sozialproblem. Und wenn Staaten die Sicherheit Privatsöldnern überlassen, bricht der Gesellschaftsvertrag auseinander. Die (erfolgreiche) Rebellion gegen die Wasserprivatisierung in Bolivien ist heute allseits bekannt. Das Bildungswesen in Chile, die Söldnerarmeen in Afrika, die Gefängnisse in den USA, die sich erfolgreich um hohe Auslastung kümmern, sind ebenfalls bekannte Problemfälle. Aber es gibt durchaus auch positive Beispiele, wie etwa die BOT-Verträge für Verkehrsinfrastrukturen: Build – Operate – Transfer heißt, dass der private Investor die Brücke oder Straße baut und seine Kosten wenige Jahrzehnte lang durch Wegzölle wieder eintreiben darf, danach aber das Objekt an den Staat übergibt.

Gibt es Bereiche, die Ihrer Ansicht nach tabu sein müssten für eine Privatisierung?

Alle Güter, auf die die Ärmsten angewiesen sind. Oder aber die privatisierten Unternehmen müssen zu einer Preisgrenze verpflichtet werden – dass zum Beispiel der Wasserpreis für eine Familie höchstens soundso viel Prozent des Einkommens ausmacht. Aber in solchen Bereichen ganz die Finger von einer Privatisierung zu lassen, wäre sinnvoller.

Stichwort Einfluss. Kann sich der Staat bei einer Privatisierung Einfluss sichern?

Generell muss man sagen: Ob Kommune, Land oder Bund – der Staat muss sich diesen Einfluss sichern. Dazu gehört auch ein Rückkaufsrecht. Zudem muss die Erfüllung der bislang von Öffentlichen erledigten Aufgaben an klar gefasste Bedingungen geknüpft werden. Nur so steht der Private unter Druck, nicht nur seinen Gewinn im Auge zu haben, sondern auch die Interessen der Bürgerinnen und Bürger.

Und eines muss auch klar sein: Privatisierung kann nie ein Instrument finanzschwacher Kommunen sein. Denn eine Kommune, die Aufgaben abgibt, damit sie Geld spart, das sie eigentlich gar nicht hat, begibt sich bei einer Privatisierung in noch größere finanzielle Abhängigkeit. Wenn sie nicht das kein Druckmittel, das Unternehmen zurückzukaufen, hat sie eine zu geringe Kontrollmöglichkeit.

Erschienen in: StandOrt (Verdi) im Mai 2008.