Professor Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker, Jahrgang 1939, zählt zu den Pionieren nachhaltigen Wirtschaftens. Schon seit den frühen 1990er Jahren entwickelt er Ideen für eine zukunftsfähige und ressourcenschonende Wirtschaft, die nicht nur auf gnadenlosem Wettbewerb, ständigem Wachstum und kurzfristigem Gewinnstreben beruht. Seit 1991 ist von Weizsäcker Mitglied des Club of Rome, ein gemeinwohlorientierter Zusammenschluss von Experten unterschiedlichster Fachrichtungen aus mehr als 30 Ländern, der sich für eine nachhaltige Zukunft der Menschheit einsetzt und dafür die großen Megatrends studiert. Zwischen 2012 bis 2017 war er Co-Präsident des Club of Rome und seit 2018 ist er dessen Ehrenpräsident. Die Organisation wurde 1968 gegründet und genießt seit 1972 aufgrund der Veröffentlichung des Berichts „Die Grenzen des Wachstums“ internationale Anerkennung – ein weltweit beachteter Weckruf für eine nachhaltige Entwicklung der Menschheit. Anlässlich seines 50jährigen Bestehens veröffentlicht der Club of Rome 2018 den neuen Bericht mit dem Titel „Wir sind dran“. In diesem fordert von Weizsäcker eine neue Aufklärung, eine neue Denkweise für die „Volle Welt“, die gesättigte Welt, die endlich Stabilisierung und ökologische Gesundung in den Blick nimmt. Für sein Umweltengagement wurde von Weizsäcker – studierter Physiker und Professor der Biologie – mehrfach ausgezeichnet. Unter anderem erhielt er den Deutschen Umweltpreis (2008), das Große Bundesverdienstkreuz (2009), den Theodor-Heuss-Preis (2011) und die Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg (2012).
Aktuelle Ausgabe des Wirtschaftsführers
Wirtschaftsführer: In seinem neuesten Bericht wird das Thema der Nachhaltigkeit einer Weltentwicklungspolitik in den Vordergrund gestellt. Sie waren von 2012 bis 2018 mit Anders Wijkman Co-Präsident des Club of Rome. Wer ist der Club of Rome und welche Aufgaben hat er sich gestellt?
Ernst Ulrich von Weizsäcker: Der Club wurde 1968 von dem Industriellen Aurelio Peccei aus Italien gegründet und wurde 1972 mit dem Buch Die Grenzen des Wachstums zu dem wirkmächtigsten Mahner für eine nachhaltige Welt. Seit damals hat der Club etwa 45 weitere Berichte über alle großen Menschheitsthemen bekommen und propagiert.
Wirtschaftsführer: Der erste, nunmehr schon legendäre Bericht des Club of Rome aus dem Jahr 1972, „Grenzen des Wachstums“, zeichnete ja ein eher düsteres Bild der Zukunft. Waren die Voraussagen seinerzeit zu pessimistisch?
Ernst Ulrich von Weizsäcker: Die damalige Annahme, dass mehr Industrieproduktion mehr Umweltverschmutzung bedeutet, war viel zu pessimistisch. Auch die Verfügbarkeit der mineralischen Ressourcen wurde zu pessimistisch eingeschätzt. Aber die Grundaussage bleibt richtig: Unaufhörliches Wachstum der Weltbevölkerung und des Konsums sind auf dem kleinen Planeten Erde Selbstmord.
Wirtschaftsführer: Sie haben gemeinsam mit Anders Wijkman, der wie Sie auch Mitglied des Exekutiv-Komitees des Club of Rome ist, auf der Basis der Arbeit des Club of Rome einen Bericht in Buchform veröffentlicht. Der deutsche Titel heißt: „Wir sind dran“. Das klingt ja zunächst eher bedrohlich. Sind wir jetzt wirklich „dran“? Ist das Kind also schon in den Brunnen gefallen?
Ernst Ulrich von Weizsäcker: Der Titel ist schelmisch: Wir sind an der Reihe, was zu ändern – keine Frage. Aber wenn wir’s blöd anstellen, dann „sind wir dran“.
Wirtschaftsführer: Es gibt ja immerhin die 2030 Agenda der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung. Es scheint doch so, als sei die Welt nun entschlossen, Überbevölkerung, Armut und Kriege sowie die damit zusammenhängenden Migrationen ernsthaft anzugehen. Wie schätzen Sie diese Bemühungen der Vereinten Nationen ein?
Ernst Ulrich von Weizsäcker: In der Agenda 2030 ist das Thema Weltbevölkerung mal wieder ausgelassen worden. Ein Skandal! Und die Überwindung der Armut und des Hungers und der Arbeitslosigkeit mit den Methoden konventioneller Wachstumswirtschaft macht das Erreichen der drei ökologischen Ziele der Agenda, Klima, Meere, Artenvielfalt zur blanken Illusion.
Wirtschaftsführer: Wo sehen Sie derzeit ganz konkret nicht nachhaltige Entwicklungen, die tatsächlich zukunftsbedrohend sind? Wie sehen Sie dabei die Rolle der Digitalisierung?
Ernst Ulrich von Weizsäcker: Solange internationales Flugbenzin nicht besteuert werden darf – so das Abkommen von Chicago – Raubbau am Fischreichtum, an fossilen Brennstoffen, an den Böden nirgends bestraft wird und eine industrielle, mit Bioziden operierende Landwirtschaft auch noch subventioniert wird, hat die Natur langfristig keine Überlebenschance. Die Digitalisierung kann einzelne Prozesse eleganter machen, wird aber vielfach zur Ankurbelung des Konsums und Vermehrung des LKW-Verkehrs eingesetzt, Beispiel Amazon. Es gibt eine Rechnung, nach welcher sich der Ressourcenverbrauch pro digitaler Leistung seit dem ersten Desktop, Apple 2, um einen Faktor tausend verkleinert hat, tolle Leistung, aber dass im genau gleichen Zeitraum der Gesamt- Ressourcenverbrauch der digitalen Leistungen sich ebenfalls vertausendfacht hat, weil die Zahl der digitalen Leistungen sich vermillionenfacht haben. Man denke nur an den gigantischen Energieverbrauch der Bitcoins. Seit ich das weiß, betrachte ich mein Ein-Euro-Stück im Geldbeutel mit einer gewissen Rührung!
Wirtschaftsführer: Wie kommt es eigentlich, dass diese Entwicklungen immer noch vorhanden sind? Worauf führen Sie das zurück? Ist es tatsächlich „nur“ dieGeldgier mächtiger Wirtschaftsunternehmen oder gibt es noch andere, tiefere Ursachen?
Ernst Ulrich von Weizsäcker: Geldgier steckt in uns allen, keineswegs nur in den Konzernen. Unsere Zivilisation ist krank.
Wirtschaftsführer: In Ihrem Buch fordern Sie eine „Neue Aufklärung“. Was genau verstehen Sie darunter?
Ernst Ulrich von Weizsäcker: Ja, es geht um die Gesundung der Zivilisation. So wie die Aufklärung im 18. Jahrhundert die großartige Industrielle Revolution und die rasanten Fortschritte der Medizin möglich gemacht hat. Bloß in der heutigen „vollen Welt“ müssen ganz andere Ziele angepeilt werden. Klima, Biodiversität, gesunde Böden, Stopp der Bevölkerungsvermehrung usw. Der aus der alten Aufklärung kommende Durchmarsch von Egoismus, Utilitarismus, Individualismus, Rationalismus, Kolonialismus (sic!) und die permanente krasse Belohnung von Geschwindigkeit müssen als Krankheitssymptome entlarvt werden. Dann könnte eine Zivilisation der „Balance“ entstehen. Balance zwischen Mensch und Natur, zwischen Kurzfrist und Langfrist, zwischen öffentlichen und privaten Gütern usw. Wirtschaftsführer: Es gibt ja kraftvolle antiaufklärerische Tendenzen. Diese kommen z. T. als Grundmisstrauen gegenüber wissenschaftlichem Wissen, als „alternative Fakten“ oder religiöse Fundamentalismen daher. Sind die offenen verfassungsstaatlichen Demokratien westlicher Prägung noch in der Lage, mit solchen massiven Abweichungen vom Leitbild des „mündigen Staatsbürgers“ umzugehen?
Ernst Ulrich von Weizsäcker: Richtig. Wenn ich im Trump-Amerika leben würde, wäre ich voll auf der Seite von Steven Pinker, mit „Enlightenment Now“, wo er im Grunde die alte Aufklärung beschwört als Heilmittel gegen das politische Lügen. Aber in die Tiefendimension des Club of Rome Buches „Wir sind dran“ geht er überhaupt nicht ein. Er bleibt an der Oberfläche des banalen Fortschrittsoptimismus. In Amerika verkauft sich das gut.
Wirtschaftsführer: Könnten hier mehr Elemente unmittelbarer Demokratie, also mehr Bürgermitentscheidung hilfreich sein?
Ernst Ulrich von Weizsäcker: Die populistischen, teilweise rechtsextremen Bewegungen unserer Tage preisen die unmittelbare Demokratie. So bei der einschlägigen Debatte im Deutschen Bundestag. Das bestätigt mich in meiner Skepsis. Natürlich kann man über Flussbegradigungen oder Fluglärm lokale Volksbefragungen machen. Aber wo es in die Fragen hineinreicht, die im Grundgesetz stehen, sollte man sich auf die verfassungsgemäßen Formen der Mitentscheidung beschränken.
Wirtschaftsführer: Basieren nicht auch die meisten Rechtssysteme auf einem „Leere-Welt-Konzept“? Ist das Denken in Rechtssubjekten (Menschen und Organisationen von Menschen) und Rechtsobjekten (z. B. die Natur) und in den binären Kategorien von „Recht“ und „Unrecht“ noch angemessen für eine „Volle Welt“?
Ernst Ulrich von Weizsäcker: Völlig richtig. Man muss auch das Rechtssystem auf die Situation der Vollen Welt anpassen. Bloß bedeutet das leider schärfere Einschränkungen, und das ist unpopulär!
Wirtschaftsführer: Welchen Beitrag könnte oder müsste Ihrer Auffassung nach das Rechtssystem zum Thema Nachhaltigkeit leisten?
Ernst Ulrich von Weizsäcker: Artikel 20a GG war ein Fortschritt. Weiterhin scheint es mir wichtig, dass das Vorsorgeprinzip hochgehalten und gegen alle Angriffe verteidigt wird. Die amerikanische Tradition kennt es kaum. Due diligence ist was viel Schwächeres. Und amerikanisierte Konzerne und ihre Rechtsanwälte lästern dauernd über die „risikoaversen europäischen Weicheier“. Die Chemieindustrie versucht seit einiger Zeit, ein „Innovationsprinzip“ als rechtlich gleichmächtig durchzusetzen. Als ob Innovation nicht längst der Liebling sämtlicher Investoren wäre! Zum Vorsorgeprinzip gehört allerdings auch eine permanente Infrastruktur der Technikfolgenabschätzung. Das war einst eine amerikanische Erfindung, ist dort aber fast vom Erdboden verschwunden.
Wirtschaftsführer: Herr Professor von Weizsäcker, herzlichen Dank für das Gespräch!