Sustainable Mobility – Perspektiven einer zukunftsfähigen Verkehrspolitik

Deutscher Evangelischer Kirchentag Frankfurt 13.–17. Juni 2001
Themenbereich 3 – In Freiheit leben

Einleitungsreferat

„Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen“. So heißt es in einem deutschen Gedicht, das wir in der Schule auswendig zu lernen hatten. Wer reist, ist besser dran, das ist die Botschaft der modernen Welt.

Nicht nur der modernen Welt.

Versetzen wir uns in ein mittelalterliches Dorf, ärmlich und ohne viel Abwechslung. Da hört man Pferdegetrappel. Ein kleiner Trupp bewaffneter Reiter sprengt herein, auf den Dorfplatz. Bewunderung und ein wenig Angst schlägt ihnen entgegen. Sie holen sich ungefragt, was sie haben wollen. Etwas zu trinken und zu essen, vielleicht gleich ein Stück Vieh, und vielleicht vergreifen sie sich an den Dorfmädchen. Wenn sie gut aufgelegt sind, kramen sie einen Dukaten heraus. Oder sie sind leutselig und schwatzen mit dem Volk. Sie prahlen mit ihren Abenteuern an Orten, wo das Dorfvolk nie hinkommt.

Die Ritter zu Pferde sind die Mächtigen. Sie haben die Mobilität, von der das Volk nur träumen konnte. Mobilität ist Macht. Mobilität schafft freie Spielräume, und sie ist die Basis der Bereicherung. Von der materiellen Bereicherung haben wir in der Dorfszene erzählt.

Auch die geistige Bereicherung lebt von der Mobilität. Goethes Italienreise, Humboldts Südamerikareisen und vorher schon Cooks Weltumsegelung, das waren Marksteine der europäischen Kultur. Für den Handwerksburschen und für den fahrenden Scholaren waren die Lehr- und Wanderjahre das prägende Erlebnis. Das Wandern ist des Müllers Lust, und nicht nur des Müllers.

Kein Wunder also, dass die Gesellschaft es als enormen Fortschritt ansah, als die Mobilität aufhörte, ein Privileg von wenigen Mächtigen zu sein. Was der Weltumsegler James Cook als Einzelkämpfer schaffte, machte Thomas Cook 150 später dem breiteren Bürgertum zugänglich: die touristische Weltreise. Damals noch mit Eisenbahn und Schiff und ziemlich teuer, aber doch schon irgendwie in Reichweite für das Volk.

Der eigentliche Durchbruch für die Mobilität kam aber mit dem Auto. Jedem sein Auto, das war nicht nur Henry Fords geniale Geschäftsidee, mit der er zum Milliardär wurde. Jedem sein Auto, das war der Traum, von dem die vorhin genannten Dörfler eben nur träumen konnten.

Mit dem Auto kam eine dramatische Veränderung der Siedlungsstruktur. Die Städte wurden doppelt und viermal so groß, ohne Zunahme der Bevölkerung. Wer es sich leisten konnte zog in ein Eigenheim am Stadtrand, vor allem der Kinder wegen. Auch die Betriebe zogen weg aus der inneren Stadt. Sie brauchten mehr Platz, nicht zuletzt für hunderte von Parkplätzen und den anschwellenden LKW-Verkehr für die Zulieferer und Auslieferer. Für die Familien wurde das Auto inzwischen zum Einkaufswagen. Am Stadtrand entstanden demgemäß die Supermärkte, die kein Mensch zu Fuß aufsucht. Erst hatten die Innenstädte die Kinder und jungen Familien verloren, dann die Betriebe, und schließlich die Geschäfte für den täglichen Bedarf.

Jetzt gibt es kein Zurück mehr von der autoabhängigen Gesellschaft. Bahnen und Busse rutschen immer tiefer ins Defizit. Immerhin will in Deutschland die Bevölkerungsmehrheit noch, dass die Kommunen den öffentlichen Verkehr unterstützen.

Amerika tickt da längst anders. Da haben die Familien zwei bis vier Autos, darunter neuerdings ein SUV, ein sport and utility vehicle. Das ist eine geländegängige Vielzweckwaffe, wo man schon mal ein Kalb oder ein Jazzquartett mit allen Instrumenten aufladen kann. Zugelassen als „Lastwagen“ mit den dafür extra laxen Umweltvorschriften, mit einem Spritverbrauch von 15 Litern pro hundert, angepriesen als Sicherheitsfestung, aber wegen des viel zu hohen Schwerpunkts viel unfallträchtiger als ein Mittelklassewagen. Die vielen Millionen SUVs, die in den letzten zehn Jahren Amerika überschwemmt und mit einer neuen Sorte Mobilitätsgefühl infiziert haben, sind einer der Gründe für Präsident Bush, sich aus der klimapolitischen Verantwortung stehlen zu wollen.

Das Auto ist für die globalisierte, mobile Welt natürlich nicht schnell genug. Das Flugzeug, zunächst von kühnen Pionieren geflogen, dann erstmal das Lieblingskind des Militärs, ist nach dem Zweiten Weltkrieg zum regulären Verkehrsmittel geworden. Die Bedeutung Frankfurts hängt eng mit dem Flughafen zusammen. In den Hotels rund um den Flughafen, kann man mit ansehen, was heute abgeht. Da kommen Manager aus aller Welt für Kurzkonferenzen zusammen und stieben nach einem halben Tag wieder in alle Himmelsrichtungen auseinander. Zeit ist Geld.

Und wer sich von dem erzwungenen Stress mal rasch erholen muss, fliegt kurzerhand zum Wochenende nach Malta. Wer so lebt, hat natürlich auch Verständnis dafür, dass die Piloten fast 30% mehr Geld bekommen. (Man stelle sich einmal den Empörungsaufschrei vor, wenn die Parlamentarierdiäten einmal auch nur um ein Drittel dieser Steigerung angehoben würden!)

Stattliche Wachstumsraten haben wir in den letzten Jahrzehnten beim Flugverkehr insgesamt erlebt. So um die 7% pro Jahr. Immer wieder eine neue Startbahn, eine neue Abfertigungshalle, ein ganzer neuer Flughafen. Und demnächst der doppelbödige Superjumbo für 600 und mehr Passagiere.

Der Schnellste gewinnt. Das ist das Motte der globalisierten Wirtschaft. Was die Wirtschaft vorgibt, wird von den Medien, der Politik, dem Zeitgeist nachvollzogen. Es sieht aus wie eine Beschleunigungsspirale ohne Ende.

Das kann gar nicht auf Dauer gut gehen!

Erstens gibt es mit jedem Fortschritt und den zugehörigen Gewinnern auf der einen Seite auch Verlierer auf der anderen Seite. Die Betroffenen des Frankfurter Fluglärms sind hier in der Halle in großen Scharen versammelt, um ihre Not mit dem immer weiter anschwellenden Luftverkehr zum Ausdruck zu bringen. Sie stehen stellvertretend für all die Menschen, die durch Mobilität anderer in Mitleidenschaft gezogen werden. Schlaflosigkeit an lauten Straßen, Verkehrsunfälle und die Zerschneidung von ehemals wohnlichen Quartieren sind die wichtigsten Stichworte.

Zweitens erleiden ganz viele Verlierer des durch die erhöhte Mobilität getriebenen Strukturwandels etwas äußerst Schmerzliches, nämlich erzwungene Mobilität. Sie verlieren ihren Arbeitsplatz, ihre vertraute Umgebung, womöglich ihre Heimat, und müssen sich ganz woanders eine neue Existenz aufbauen. Mobilität erzeugt Mobilität auch da, wo sie eigentlich keiner will!

Drittens gibt es einen großen, stummen Verlierer. Das ist die Natur. Es werden nicht nur Wohnquartiere zerschnitten, sonder auch die natürlichen Lebensräume von Pflanzen und Tieren. Luft, Wasser und Böden leiden unter Abgasen, Reifenabrieb und versickerndem Öl. Der Luftverkehr ist eine besondere Gefahr für das Klima. Der Wasserdampf, den wir als Kondensstreifen wahrnehmen, ist ein höchst wirksames Treibhausgas, viel wirksamer noch als das CO2. Und die Ölvorräte schrumpfen. Seit einigen Jahren wird jährlich wesentlich weniger neu entdeckt als verbraucht.

Viertens ist es die Geschwindigkeit selbst, die uns Sorgen machen müsste, selbst dann, wenn die Verkehrsbewegungen vollkommen lautlos, abgasfrei, unfallfrei und landschaftserhaltend wären (was bekanntlich eine Illusion ist). Ein System, in dem allenthalben eine hohe Prämie auf Schnelligkeit herrscht, wo also immer der Schnellere gewinnt, ist prinzipiell instabil. Die Langsamkeit schenkt dem System die nötige Zeit zum Erproben. Wenn die Langsamen rausfliegen, zerfällt das System.

Die vierte, abstrakt erscheinende, tiefgründige Gefahr ist vielleicht das, was man auf einem Kirchentag ansprechen sollte. Denn die eher oberflächlichen Gefahren kommen auch anderswo zur Sprache. Auch in der Tagespolitik, wo sich die Betroffenen ja zu Wort melden können.

Die vierte Gefahr ist verwandt mit dem, was Richard Sennett in seinem Buch Der flexible Mensch als die Kultur der Kurzfristigkeit und als die Kultur des neuen Kapitalismus beschreibt. Er vertritt die These, dass die Akteure, die sich nur an der kurzfristigen Gewinnerzielung orientieren, die zivilisatorischen Grundlagen des Kapitalismus und damit ihres eigenen Erfolges aufzehren.

Nicht zuletzt die Arbeitsethik mit ihrer oft entsagungsreichen Stetigkeit verliert in der Welt des rasenden Kasinokapitalismus ihre Überzeugungskraft. Spekulanten und Spieler machen das Rennen, und „der Ehrliche ist der Dumme“, wie es Ulrich Wickert ausgedrückt hat.

Die Wiedergewinnung von Stetigkeit und Verlässlichkeit könnte zum größten kulturellen Verlangen in unserer Zeit werden. In Russland, gebeutelt von bösen Auswüchsen der neuen Ellenbogengesellschaft, ist dieses Verlangen begreiflicherweise übermächtig. Man soll das nicht als Kommunismus-Nostalgie abtun.

Klaus Meyer-Abich geht noch weit über Richard Sennett hinaus. Er fordert angesichts der Umweltkrise und der in rasende Geschwindigkeit geratenen Gesellschaft die Wiederentdeckung der Sesshaftigkeit.

Die Sesshaftigkeit war ja die große Erfindung der Menschheit vor rund 10 000 Jahren. In der „neolithischen Revolution“ wurden aus den umherstreifenden Nomaden sesshafte Bauern. Es entstanden Dörfer und Städte. Die Sesshaftigkeit war die schlichte Voraussetzung der kulturellen Höherentwicklung des Homo Sapiens. Hier entstand auch eine Art Selbstverständlichkeit dafür, dass man das Land, auf dem – und mit dem man – lebt, nicht zerstört. Nomaden kannten diese Fürsorglichkeit nicht.

In anderen Worten, es gab einmal einen riesigen Sprung in der Entwicklung der Menschheit, welcher durch die Preisgabe von Mobilität und durch die Entdeckung der Sesshaftigkeit gekennzeichnet war.

Die zerstörerischen Symptome eines Systems, in dem stets der Schnellste gewinnt, lassen Meyer-Abichs Hypothese zu, dass es einmal mehr in der Menschheitsgeschichte darum gehen könnte, die Sesshaftigkeit einer bestimmten Mobilität vorzuziehen.

Warum bin ich überhaupt zur Einleitung dieses verkehrspolitischen Forums auf so grundsätzliche Fragen zu sprechen gekommen? Der Sinn ist folgender: Wir dürfen als denkende – und verantwortungsvoll denkende – Menschen nicht naiv davon ausgehen, dass die Verkehrspolitik auf Dauer von sogenannten Sachzwängen geleitet wird. Diese Sachzwänge kleiden sich in so schöne Worte wie Erschließung, Engpassbeseitigung, Infrastruktur, Wettbewerbsfähigkeit und immer wieder Arbeitsplätze. Realpolitiker erkennt man daran, dass sie nicht gegen diese Sachzwänge aufbegehren, sondern sich lieber von ihnen versklaven lassen.

Wozu ich hier beim Kirchentag aufrufen möchte ist, dass man sich erlaubt, sich von den Sachzwängen nicht versklaven zu lassen. Vielmehr wollen wir bei der anschließenden Diskussion mit frischem Mut über die Fragen der Mobilität sprechen.

Ich will nicht, dass wir jetzt über das Neolithikum, die Jungsteinzeit, philosophieren. Ich will auch nicht, dass wir die, die ihre moderne Mobilität in vollen Zügen genießen, verdammen. Was ich will, ist eine vorurteilsfreie, also auch von angeblichen Sachzwängen freie Diskussion.

Dabei sollten wir uns zumindest an ein Prinzip der Marktwirtschaft erinnern und halten: Die Preise sollten die Wahrheit sagen. Wenn sie uns anlügen, führen sie uns in die Irre. Das Subventionieren von Mobilität ist marktwirtschaftlich gesehen ein Fehler. Wenn wir auch noch die Kosten von Verkehrsunfällen, Lärmschäden und Umweltschäden in die Preise hinein bringen, damit die Preise der Wahrheit noch näher kommen, dann wird die Mobilität noch teurer. Ich halte das für längerfristig völlig unausweichlich.

Die Schweizer haben uns da etwas Großartiges vorgemacht. In einer dramatischen Volksabstimmung haben sie mit großer Mehrheit für eine „leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe“ gestimmt. Damit werden sie es schaffen, den Güterschwerverkehr weitgehend auf die Schiene zu verlagern. Bei uns ist ähnliches geplant, aber mit einem EG-rechtlichen Haken. Wir dürfen nach EG-Recht wohl nur eine Autobahnabgabe erheben, was sehr unerwünschte Verlagerungseffekte nach sich ziehen kann.

Besonders wichtig sind wahrhaftige Preise im Luftverkehr. Es ist ein Skandal, dass wir immer noch keine Steuern auf das Kerosin für die internationalen Flüge erheben dürfen. Eine der politisch dringlichsten Aufgaben ist die Kündigung oder völlige Veränderung des über 50 Jahre alten Abkommens von Chicago, das diese Flugbenzinsteuern verbietet.

Ich bin ganz und gar optimistisch, dass die Verteuerung der Mobilität für die Kultur und die Umwelt segensreich wirkt und dass Wirtschaft und Technik höchst kreative Wege finden werden, damit umzugehen.