DIE ZEIT 04.01.2005 Nr. 2
Ein Klimaforscher, eine Ärztin, ein Ökonom – drei Seiteneinsteiger zogen aus, um Politik zu machen. Können sie wirklich etwas verändern?
Früher, als er noch Direktor des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt und Energie war, ein weltweit geschätzter Fachmann, war die Sache einfach. Wenn Ernst Ulrich von Weizsäcker in Hamburg, München oder Washington einen Vortrag hielt, stand unter seinem Namen sein Beruf: Wissenschaftler. Oder Klimaforscher. Doch seit er sein herkömmliches Betätigungsfeld verlassen hat, gibt es immer wieder Probleme. Seit 1998 ist Ernst Ulrich von Weizsäcker Bundestagsabgeordneter, Direktkandidat für die SPD im Wahlkreis Stuttgart I, Berufspolitiker also. Aber Politiker oder Abgeordneter? Das könne man doch nicht ins Programmheft schreiben, finden viele von denen, die ihn noch immer zu Vorträgen einladen. Das klinge doch – nicht attraktiv.
Von Weizsäcker erzählt diese Episode gleich am Beginn eines Gesprächs, das von seinen Erfahrungen als Seiteneinsteiger in der Politik handelt und davon, warum die so selten sind wie Krokusse im Herbst. Der 65-Jährige ist unterwegs im Eurocity 176 von Berlin, wo am Nachmittag die SPD-Fraktion getagt hat, nach Hamburg, wo er abends über die Entwicklung der Metropolen im Zeitalter der Globalisierung sprechen wird. »Das Vorurteil, Politiker zu sein, sei etwas Unanständiges, wird kultiviert«, sagt Weizsäcker mit sanfter, unaufgeregter Stimme. »Mich kränkt das nicht. Ich denke nur, ich bin es meinen Politikerkollegen schuldig, mich zu bekennen, dass ich in diesem Verein dabei bin.«
Die Geringschätzung von Politikern und Parteien hat hierzulande Tradition. Doch glaubt man den Umfragen, ist das Verhältnis zwischen dem Volk und seinen professionellen Vertretern derzeit so schlecht wie seit langem nicht. Eine Vertrauenskrise greift um sich, die mit den herkömmlichen Politikerklischees nur unzureichend erklärt werden kann. Je geringer die Spielräume für Politiker insgesamt sind, desto größer ist die Enttäuschung über das Unvermögen jedes Einzelnen. Die Verachtung wächst vor allem gegen jene, die gleich nach dem Examen eine Parteikarriere gemacht und nie einen anderen Beruf als den des Politikers ausgeübt haben. Seiteneinsteiger dienen vor diesem Hintergrund als Projektionsfläche: Die Erwartung, die sich an ihren Auftritt knüpft, ist Ausdruck einer unbestimmten Hoffnung, dass die Politik ganz anders sein könnte als das schäbige Bild, das die Bild- Zeitung tagtäglich von ihr entwirft. Seiteneinsteiger sind attraktiv, weil sie im besten Fall eine andere Sprache sprechen, eine andere Biografie haben und einen richtigen Beruf. Weil sie, so die Hoffnung, über mehr Eigensinn verfügen als der gewöhnliche Parteisoldat.
Nur: Wie viel von alledem lässt sich überhaupt in die Politik übertragen? Wie groß ist die Chance für Seiteneinsteiger, in diesem Milieu wirklich Fuß zu fassen? Und für wie lange kann sich jemand den Ruf eines Außenseiters bewahren, ab wann ist er – wie alle anderen – nur noch »ein Politiker«? Als Gerhard Schröder 1998 Bundeskanzler werden wollte, schob er den parteilosen Software-Unternehmer Jost Stollmann als künftigen Wirtschaftsminister auf die Bühne. Einen Sommer lang galt Stollmann als die Ikone einer neuen Zeit. Acht Tage bevor er als Minister vereidigt werden sollte, gab der Unternehmer auf. Bis heute findet sich unter den wenigen Außenseitern, die überhaupt den Weg in die Politik gefunden haben, kein namhafter Vertreter der Wirtschaft. Auch die anderen Seiteneinsteiger, die das erste Kabinett Schröder zierten, sind längst nicht mehr im Amt: Werner Müller, Michael Naumann, Walter Riester.
Licht flutet an diesem kalten, klaren Dezembermorgen durch den Plenarsaal des sachsen-anhaltinischen Landtags. Vorne am Rednerpult steht Karl-Heinz Paqué, ein groß gewachsener Mann im dunklen Dreiteiler mit rotem Einstecktuch. Seine Rede verrät Ehrgeiz und Selbstbewusstsein. Paqué ist Finanzminister und erläutert gerade den Doppelhaushalt 2005/06. Er erklärt, warum das Land auch in den kommenden zwei Jahren voraussichtlich mehr als 1,7 Milliarden Euro Schulden aufnehmen müsse, obwohl Sachsen-Anhalt in dieser Legislaturperiode »den Kampf gegen das Ausufern konsumtiver Ausgaben« härter geführt habe als jedes andere Bundesland. Die Opposition kontert. »Die Kluft zwischen Theorie und Praxis ist bei keinem anderen Regierungsmitglied so groß wie bei Ihnen!«, ruft der Fraktionsvorsitzende der SPD.
Die Theorie, das war Paqués früheres Leben. Der Ökonom war wissenschaftlicher Direktor des renommierten Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, später Professor für Volkswirtschaftslehre an der Otto-von-Guericke-Universität in Magdeburg. Ein überzeugter Neoliberaler, der leidenschaftlich für mehr Markt, mehr Wettbewerb und Deregulierung stritt. Die Praxis, das ist ein öffentlicher Landeshaushalt, bei dem Einnahmen und Ausgaben weit auseinander klaffen und der ohne zusätzliches Geld aus Berlin und Brüssel vollständig aus dem Ruder laufen würde.
Karl-Heinz Paqué ist 48. Vor fünf Jahren trat er der FDP bei, weil die rot-rote Koalition in Magdeburg, wie er fand, »ein bürgerliches Gegengewicht brauchte«. Der Kreisverband der FDP in Magdeburg zählte damals nicht einmal hundert Mitglieder. Noch immer sind kleine Parteien für Seiteneinsteiger durchlässiger als die großen. 2002 kommt es zum Regierungswechsel. Paqué wird Finanzminister – und seitdem täglich damit konfrontiert, was er früher als Professor gelehrt hat.
Außerhalb des Haushalts, findet Paqué, habe er wenig Kompromisse gemacht. Wenn nur nicht diese Schulden wären… 2006, hatte der Finanzminister bei seinem Amtsantritt versprochen, werde Sachsen-Anhalt keine neuen Schulden mehr aufnehmen; nun hat er das Ziel auf 2011 verschoben. Vor dem Plenarsaal gratuliert ihm der Bauminister von der CDU zu seiner Haushaltsrede. »Jetzt müssen wir nur noch ein paar Millionen für den Straßenbau lockermachen«, fügt er hinzu. Paqué holt tief Luft. »Wie das in den Haushaltsberatungen abläuft«, sagt er, »das ist schon sehr rustikal.«
Noch immer liegt die Arbeitslosenquote in Sachsen-Anhalt über 20 Prozent, viele Junge gehen in den Westen. Je länger man mit Paqué darüber spricht, desto mehr Nebensätze erhält seine liberale Theorie. Die Forderung nach einer flexiblen Tarifpolitik hält er grundsätzlich für richtig. Aber: »In Ostdeutschland herrscht bereits freie Lohnbildung. In Magdeburg gibt es Call-Center mit 2000 Mitarbeitern, da werden 4,50 Euro pro Stunde gezahlt. Soll ich denen erzählen, ihr müsst auf zwei Euro runter? Das ist doch Quatsch. Flexibilität allein genügt nicht.« Was in Ostdeutschland fehle, sagt Paqué, seien Industriearbeitsplätze. Aber ohne die staatliche Förderung von Zukunftstechnologien, das weiß er, wird es diese nicht geben: »Manche Aussagen von ordnungspolitisch orientierten, guten Kollegen halte ich schlicht für blauäugig.« Paqué hat seine liberalen Positionen im Amt keineswegs verraten. Aber der Professor, der Politiker geworden ist, formuliert deutlich differenzierter als die Mehrzahl jener neoliberalen Ökonomen, die in Deutschland die öffentliche Debatte prägen – und keine politische Verantwortung tragen.
Auch Ursula von der Leyen hat in den vergangenen drei Jahren eine erstaunliche Karriere gemacht. Im Herbst 2001 kandidierte die Medizinerin erstmals für den Stadtrat im niedersächsischen Sehnde. Im März 2003, wurde sie Mitglied des Landtags und Sozialministerin im Kabinett von Christian Wulff. Seit vier Wochen ist sie Mitglied im CDU-Präsidium, dem höchsten Führungsgremium der Partei. Aber ist die 46Jährige überhaupt eine Seiteneinsteigerin? Ihr Vater, Ernst Albrecht, war 14Jahre lang Ministerpräsident von Niedersachsen. »Die Berührungsängste, die viele gegenüber der Politik haben, gab es natürlich nicht«, sagt von der Leyen. Andererseits: »Was den politischen Alltag angeht, die Arbeit in der Partei, im Landtag und im Ministerium, hatte ich keine Ahnung.«
Vor allem hat von der Leyen eine Biografie. Bevor sie sich entschloss, in die Politik zu gehen, arbeitete sie als Frauenärztin. Vier Jahre lebte sie mit der Familie in den USA und erwarb dort zusätzliche Diplome in Bevölkerungsmedizin und Gesundheitswesen. Von diesem Fachwissen, sagt sie, zehre sie bis heute. Von der Leyen ist eine überzeugte Verfechterin von Angela Merkels umstrittener Gesundheitsprämie. In der CDU hat sich die Medizinerin rasch einen Namen als versierte Gesundheitspolitikerin gemacht. Den fragwürdigen Kompromiss mit der CSU akzeptierte sie nur ungern.
Neben ihrem Beruf bringt von der Leyen eine andere, herausragende Erfahrung mit: Sie ist Mutter von sieben Kindern. Ein Umstand, der ihr den Weg in die Politik nicht gerade einfacher gemacht hat. Als sie sich in der CDU um einen Wahlkreis bewarb, wurde sie von den Parteifreunden immer wieder, scheinbar arglos, gefragt: »Mit sieben Kindern, wie wollen Sie das denn schaffen?« Als Ministerin wirbt sie nun bei Unternehmern für eine »familienfreundliche Arbeitswelt«.
Freimütig räumt von der Leyen ein, dass manche Vorstellungen, die sie von ihrem Amt als Sozialministerin gehabt habe, naiv gewesen seien. Weil auch in Niedersachsen vor allem gespart werden muss, hat sie die Eingliederungshilfen für Behinderte gekürzt und das Blindengeld weitgehend gestrichen. Schmerzhafte Entscheidungen, aber: »Wer in die Politik geht, muss akzeptieren, dass die Wirklichkeit, die wir vorfinden, riesige Probleme bereitet.« Gestaltungsspielraum, darauf besteht sie, gebe es dennoch. Von der Leyen hat in Niedersachsen so genannte Mehrgenerationenhäuser initiiert: öffentliche Einrichtungen, die Jugendtreff und Altenbetreuung unter einem Dach beherbergen. Demnächst will sie ein Konzept zur Stärkung der Hospize im Land vorlegen. Für Ministerpräsident Christian Wulff ist die charismatische Seiteneinsteigerin bislang auch deshalb von unschätzbarem Wert: Der Vorwurf, die Landesregierung verfolge eine unsoziale Politik, bleibt an der Mutter von sieben Kindern nicht so leicht haften.
Politiker, so hat es der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker einmal formuliert, hätten vor allem gelernt, »wie man die Konkurrenz der anderen Parteien abwehrt und sich gegen die Wettbewerber im eigenen Lager durchsetzt«. Sicherlich, auch in anderen Berufen wird mit harten Bandagen gekämpft. Doch in der Politik wird die Konkurrenz von Anfang an öffentlich ausgetragen. Hierarchien sind oft das Resultat jahrzehntelanger Positionskämpfe. Ein Vorteil für Seiteneinsteiger wird nicht gewährt.
Ernst Ulrich von Weizsäcker bewarb sich 1993 zum ersten Mal als Kandidat für einen Bundestagswahlkreis in Nordrhein-Westfalen. In der parteiinternen Abstimmung unterlag er knapp einem Lokalmatador. Erst später hat er erfahren, dass die Ortsvereine längst untereinander ausgemacht hatten, wer von ihnen für den Bundestag und wer für den Landtag kandidieren sollte. Vier Jahre später fragte ihn die Partei in Baden-Württemberg, ob er für sie antrete.
Der Sohn des Physikers und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker hat vieles gemacht in seinem Leben: Er war Biologieprofessor, Universitätspräsident, UN-Direktor. Seinen späten Wechsel in die Politik hat er einmal damit begründet, er habe sein »analytisches Pulver in der Umweltpolitik verschossen«; nun wolle er sich der Umsetzung dieser Politik widmen. 1998, gerade neu im Parlament, wird von Weizsäcker auf eigenen Wunsch Mitglied im Finanzausschuss – und muss dort mit ansehen, wie der damalige Finanzminister Lafontaine an der Fraktion vorbei sein Vorzeigeprojekt, die Ökosteuer, durch Ausnahmegenehmigungen in Misskredit bringt. Ein ausgebuffter Fraktionskollege sorgte zudem dafür, dass der Neuling keinerlei Zuständigkeiten im Ausschuss erhielt. Von Weizsäcker: »Meine naive Idee, über Sachverstand im Finanzausschuss die Ökosteuerpolitik zu gestalten, endete mit einer reinen Bauchlandung.«
Später wurde er Vorsitzender einer Enquetekommission, die sich mit der »Globalisierung der Weltwirtschaft« befasst. Eine ehrenvolle Aufgabe, aber er rückte damit wieder weiter weg von der operativen Politik. Auch an diesem Abend in Hamburg spricht von Weizsäcker mit Emphase über die Reduzierung der globalen Wirtschaft auf die Kapitalrendite; eindringlich warnt er davor, die Umweltfragen zu vernachlässigen; nachdrücklich wirbt er für eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie. Fast alles, was von Weizsäcker sagt, ist interessant. Doch er spricht wieder ganz in seiner alten Rolle: als Mahner und Warner, als Fachmann und Politikberater, nicht mehr als einer, der doch ausgezogen war, Politik zu gestalten.
Ist er enttäuscht über seine Bilanz als Parlamentarier? Von Weizsäcker ist mittlerweile Vorsitzender des Umweltausschusses – wieder so eine ehrenvolle Aufgabe. Er zögert mit einer Antwort. »Als Universitätspräsident«, sagt er dann, »konnte ich auch nicht alles durchsetzen, was ich für nötig gehalten habe.«
Die alte Frage, wer wen mehr verändert – die Politik die Person oder die Person die Politik –, gewinnt für sie eine besondere Bedeutung. Denn wer Erfolg haben will, muss sich auf die Spielregeln einlassen. Doch wer sich zu sehr anpasst, verliert den Vorteil des Außenseiters.
Karl-Heinz Paqué wird in Sachsen-Anhalt bereits als künftiger FDP-Vorsitzender gehandelt. »Man braucht eine gewisse Demut«, sagt er und erzählt amüsiert die Anekdote des früheren Daimler-Benz-Chefs Edzard Reuter, der einst auf die Frage, ob er nicht in Berlin für die SPD kandidieren wolle, geantwortet hatte: Im Prinzip schon, aber für einen Wahlkampf stehe er nicht zur Verfügung. Die Infostände und Hinterzimmer, findet Paqué, gehörten schon dazu. Auch wenn es manchmal lästig sei.
Zwei Tage nach dem Gespräch im Eurocity meldet sich Ernst Ulrich von Weizsäcker noch einmal auf dem Handy. Eines, sagt er, sei vielleicht noch wichtig: »Nach einer Legislaturperiode ist man nicht mehr Seiteneinsteiger.«